Wer wir sind
auf Kreisau geführt zu haben.
Denn es geht ja nun nur noch um Worte.
Je länger Helmuth Moltke schreibt, desto klarer wird ihm das. Man wird Helmuth für Worte hinrichten: für die Gedanken, die er mit Freunden geteilt, für die Gespräche, die er mit Freunden geführt hat,
Das Schöne an dem so aufgezogenen Urteil ist Folgendes: Wir haben keine Gewalt anwenden wollen – ist festgestellt, wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen – ist festgestellt. Wir haben nur miteinander gedacht. Und vor den Gedanken dieser einsamen Männer hat der Staat eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist.
Je länger Helmuth an Freya schreibt, desto klarer erkennt er, wie alles sich gefügt hat. Er ist aus dem Goerdeler-Mist raus, aus den Attentatsplanungen, aus jeder praktischen Handlung. Er ist auch nicht davon befleckt, je aus selbstischen Beweggründen gehandelt zu haben. Es ist ja nun offiziell festgestellt,
dass ich großgrundbesitzfeindlich war, keine Standesinteressen, überhaupt keine eigenen, nicht einmal die meines Landes vertrat, sondern menschheitliche. Dadurch hat Freisler uns unbewusst einen ganz großen Dienst getan, sofern es gelingt, diese Geschichte zu verbreiten und auszunutzen. Und zwar im Inland und draußen.
Nun zeigt sich der Sinn des Opfers, das Helmuth Moltke bringen muss. Nun klärt sich alles, und es wird offenbar: Die ganze Welt soll und muss vom Leben und Sterben des Grafen Moltke erfahren, und von seinem Richter Roland Freisler, der nun auf ewig an Helmuth Moltke gefesselt bleiben wird wie Pontius Pilatus an Jesus Christus.
Denn in diesem Todesurteil, das morgen gegen Helmuth ergehen wird, wird ja offenkundig, was der Nationalsozialismus wahrhaft hasst und verfolgt: nicht Umsturzpläne, nicht Handlungen,nicht Taten oder die Vorbereitung von Taten, sondern den Geist selbst. So also verleiht dieses Urteil der Geschichte von Helmuth Moltkes Leben und Sterben den letzten, den höchsten Sinn. Es enthüllt, was immer und überall, zu allen Zeiten, der wahre Feind des Bösen ist. Es legt offen, welchen machtlosen, unerbittlichen Gegner die Macht des Bösen am meisten fürchtet: den Geist. Der Richter Roland Freisler ist in dieser ganzen Sache nichts als ein Werkzeug Gottes gewesen,
Vivat Freisler!
Das schreibt Helmuth an Freya. Er empfindet es tief. Der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler ist von der ganzen Bande der Einzige, der weiß, weswegen er Helmuth Moltke umbringen muss. Er ist der erste Nationalsozialist, der begriffen hat, wer Helmuth James Graf von Moltke ist.
So geht nun also heute am 11. Januar 1945 die Sonne zum letzten Mal für Helmuth Moltke auf. Er hat das aber schon gestern angenommen. Der Moment gestern hat sich ihm nicht mit Pathos erfüllt, zu Recht nicht: Hier steht er und lebt immer noch. Er wartet, ob ihn heute ein Schauder ergreift. Nichts geschieht. Helmuth trinkt den Tee, den Freya ihm geschickt hat, er isst eines ihrer Brötchen. Dann holt er den Brief hervor, den er gestern Abend an Freya geschrieben hat. Er greift zum Stift.
Mein Lieber, ich habe eigentlich nur Lust, mich ein wenig mit Dir zu unterhalten. Zu sagen habe ich eigentlich nichts. Ich denke mit ungetrübter Freude an Dich und die Söhnchen, an Kreisau und all die Menschen da, der Abschied fällt mir im Augenblick gar nicht schwer.
Das ist tatsächlich so. Vielleicht ist Helmuth ein wenig überkandidelt? Jedenfalls ist er in Hochstimmung. Je länger Helmuthüber alles nachdenkt, desto klarer erkennt er: In Wahrheit wird er gehenkt, weil er sich gefragt hat, womit im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein könnte.
So sieht er das jetzt. Erst jetzt wird Helmuth allmählich klar, was geschehen ist. Erst jetzt wird ihm deutlich, was für einen Dialog sie geführt haben, Helmuth Moltke und sein Richter. Es ist freilich so, dass die Umstehenden das gar nicht mitbekommen haben. Worte konnte Helmuth ja keine machen. Aber es war ein geistiger Dialog,
bei dem wir uns beide durch und durch erkannten.
Das schreibt Helmuth an Freya. Er hört Freisler wieder, eine der Freislerschen Tiraden,
Nur in einem sind das Christentum und wir gleich: Wir fordern den ganzen Menschen!
Nein, Helmuth Moltke ist nicht achtlos fortgeworfen worden. Freisler hat ihn nicht gleichgültig abserviert. Freisler hat ihn verstanden, er hat Helmuth durch und durch erkannt. Helmuth weiß das jetzt. Dieser Satz, an den er sich gerade eben
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