Wer wir sind
Schutz des Volkes gegen Zersetzung seiner Kampfkraft.
Natürlich weiß Freisler längst, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist. Er ist kein verblendeter Dummkopf, er sieht die Fakten. Er hat sich in privatem Rahmen schon letzten Herbst dahingehend geäußert. Aber das ist eben der Unterschied: Wenn Roland Freisler über die Kriegslage urteilt, dann urteilt er als einer, der niemals um Haaresbreite von seiner Treuepflicht abgewichen ist, der auch jetzt nicht davon abweicht, der überhaupt nicht davon abweichen kann: Roland Freisler ist Präsident des Volksgerichtshofs. Was die Volksschädlinge sich unrechtmäßig anmaßen, das eben ist ja Roland Freislers Amt: Er ist zum Urteilen berufen.
Vorbereitung zum Hochverrat begeht jeder, der sich ein Urteil anmaßt in Dingen, die er nicht zu entscheiden hat, weildas Urteil über sie allein dem Führer obliegt. Aber Freisler ist zum Urteilen bestallt, und zwar vom Führer selbst. Er urteilt im Auftrag dessen, der als Führer von Volk und Reich der einzig wahrhafte Richter ist. Er urteilt uneigennützig, gänzlich unbestechlich: Wohlstand und Luxus, Überfluss und verweichlichende Bequemlichkeit ergeben sich nicht aus seiner Tätigkeit, und sie interessieren Roland Freisler auch nicht. Er strebt ausschließlich nach Geltung, Einfluss, Wirkungsmacht, und das nur, um durch ihre Nutzung zu noch höherer Geltung zu gelangen. Roland Freisler ist keinem anderen Ideal untertan als dem selbst gesetzten, immer entschiedener der zu werden, der er bereits ist: der Richterstab in der Faust des Führers.
Das ist Roland Freisler: des Führers Statthalter vor dem Volksgerichtshof. Des Führers Stellvertreter vor dem Gesetz.
Und das Schiff war schon mitten auf dem Meer und litt Not von den Wellen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und schrien vor Furcht. Aber Petrus sprach: HERR , bist du es, so heiß mich zu dir kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus trat aus dem Schiff und ging auf dem Wasser. Er sah aber einen starken Wind; da erschrak er und hob an zu sinken. Jesus streckte die Hand aus, ergriff ihn und sprach: Du Kleingläubiger, warum zweifeltest du? Und sie traten in das Schiff, und der Wind legte sich.
Matthäus 14, 22–33. Die Losung, die Eugen Gerstenmaier für den 10. Januar ausgesucht hat. Das ist heute. Es ist Abend, der Abend des zweiten Verhandlungstags. Helmuth James Graf von Moltke ist soeben in seine Zelle zurückgebracht worden. Er ist hellwach: Er hat in den letzten beiden Tagen UnmengenKaffee getrunken, Kaffeebohnen gekaut, Coffeinpulver eingenommen. Nun ist alles vorüber.
Nun muss Helmuth das Geschehen deuten, die Zusammenhänge erkennen, die Ereignisse in eine Reihenfolge bringen: die Anklage auf Hoch- und Landesverrat im Kriege, den ratternden Freisler, das Gebrüll, die eigene Sprachlosigkeit. Helmuth ist aufgeputscht, er geht mit großen Schritten in der Zelle umher. Er ärgert sich jetzt, dass er sich nicht doch zu einem Schlusswort durchgerungen hat. Eugen Gerstenmaier hat die Gelegenheit genutzt und gesprochen. In jedem seiner Worte war seine starke Beunruhigung erkennbar. Aber Helmuth war eben nicht beunruhigt. Er war geborgen, eingehüllt in Gottes Gegenwart wie in einen Mantel. Es erschien ihm ganz müßig zu sprechen. Wozu? Es war doch nun alles vorüber.
Es ist vorüber. Gethsemane liegt hinter Helmuth. Er hegt keinen Zweifel, wie das morgige Urteil lauten wird. Dass Delp und Gerstenmaier noch immer hoffen, erscheint ihm wie ein Abfall vom Glauben. Gott will sie alle in die Seligkeit führen, das ist sicher, aber das kann doch nur gelingen, wenn jeder den Weg, den er geführt wird, auch freudig geht. Natürlich kann immer ein Wunder geschehen. Aber man darf ein solches Wunder nicht erwarten.
Helmuth hat ja nicht einmal erwartet, dass man ihn noch einmal hierher zurückbringen würde, in seine Zelle in Tegel. Er hat schon für heute mit der Urteilsverkündung gerechnet, eventuell sogar mit der Vollstreckung. Nun, so wird man ihn eben morgen zum Tode verurteilen, in einem überfüllten Primanerzimmer übrigens: Der Prozess findet im Schulgebäude des Königlichen Wilhelms-Gymnasiums in der Bellevuestraße 15 statt, in dem der Volksgerichtshof seit 1935 seinen Hauptsitz hat.
Und jetzt? Was ist an diesem letzten Abend zu tun?
Jetzt wird Helmuth noch einmal an Freya schreiben. Ihr gegenüber wird er zu einem Schlusswort
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