Wer wir sind
in Minusio.
Wohin ich mich nach seinem tode kehre?
Wer wehrt von mir des rauhen lebens stösse?
Ich werde fallen ohne seine grösse –
o sei es nicht zu fern vom pfad der ehre
Am 1. Februar ist Ernst von Harnack vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt worden. Am 2. Februar sind Rüdiger Schleicher und Klaus Bonhoeffer vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt worden, und Pater Alfred Delp SJ hat man in Plötzensee hingerichtet. Am 3. Februar erlebt Berlin den bisher schwersten Angriff des Krieges.
Wilhelm Canaris, Hans Oster, Dietrich Bonhoeffer, Hans Dohnanyi und die anderen sind zu Beginn des Alarms in den Bunker unter der Prinz-Albrecht-Straße gebracht worden. Im allgemeinen Durcheinander auf den Fluren hat Dietrich ein paar rasche Worte mit seinem Schwager wechseln können, der offensichtlich bewegungsunfähig auf einer Trage in seiner offenen Zelle lag und darauf wartete, abgeholt zu werden.
»Hans! Wie geht es?«
»Pst. Besser, als es scheint. Ich bin vorgestern von Sachsenhausen hergebracht worden. Dietrich, ich kann dir sagen, gegen dich haben sie nichts in der Hand. Aber gegen mich.«
Nach dem Angriff werden die Gefangenen sofort wieder in ihre Zellen zurückgebracht, obwohl das Prinz-Albrecht-Gelände acht Treffer abbekommen hat. Die Zellentüren werden dennoch verriegelt. Vor den Fenstern lodert ein Flammenmeer. Die ganze Welt scheint zu brennen. Wasserleitungen bersten, das Licht erlischt. Die Hitze steigt und steigt, der Sauerstoff wird knapp.
»Lasst uns raus!«
»Lasst uns hier heraus!«
Emmi Bonhoeffer und ihre Schwiegereltern haben sich vor den Bomben in die Tunnelanlagen der S-Bahn am Anhalter Bahnhof geflüchtet. Sie sind auf dem Weg in die Prinz-Albrecht-Straße, um ein Paket für Dietrich abzugeben, der morgen 39 Jahre alt wird. Als sie wieder nach oben steigen, hat sich der Tag verdüstert. Der Qualm der brennenden Stadt verdunkelt die Sonne. Zu Dietrich vorzudringen ist unmöglich. Überall auf dem Prinz-Albrecht-Gelände wüten Brände. Das Reichssicherheitshauptamt, Zentrum der Gewalt, Sitz der Macht, die ganz Europa umklammert, ist zerstört. Aber seine Gefangenen gibt es nicht her. Die nicht anders konnten, als der Gewalt entgegenzutreten, bleiben auch im Untergang an sie gefesselt.
Unter diesen Gefangenen ist auch Fabian von Schlabrendorff. Seine Verhandlung vor dem Volksgerichtshof sollte eigentlich heute stattfinden, an diesem 3. Februar, an dem nun im U-Bahnhof Potsdamer Platz nach einem Arzt gerufen wird.
Der Militärarzt Rolf Schleicher folgt dem Ruf. Er ist auf dem Weg zu Minister Thierack, um ein Gnadengesuch für seinen am Vortag verurteilten Bruder Rüdiger einzureichen. Nun steht er vor dem Mann, der das Urteil gefällt hat. Roland Freisler liegt im Hof des Volksgerichtshofs in der Bellevuestraße. Er ist tot. Die Akte Schlabrendorff ist ihm aus den Händen gerissen. Unbeachtet weichen ihre Fetzen im Schnee.
Hans von Dohnanyi spielt den Gelähmten. Tagsüber liegt er reglos in seiner Zelle. Nachts bringt er sich heimlich das Gehen bei. Er ist von Huppenkothen und Sonderegger an Kriminalrat Kurt Stawitzki überstellt, der ihm jede Hilfe verweigert. Manführt Hans nicht ins Bad, nicht auf die Toilette. Hans kackt also ins Bett. Er ist allein.
Er ist allein in der Stille, in der stinkenden tonlosen Stille. Es kommen keine Briefe. Er darf nicht schreiben. Es hat auch keinerlei Sinn, wenn Hans heult. Wenn er heult, bekommt er Kopfweh und fühlt sich flau im Magen, und dann verzweifelt er gänzlich, Hans darf nicht heulen. Er versucht, an die Menschen zu denken, die er hat.
Er denkt an Christel und die Kinder, Christel und die Kinder. Erinnerungen an Sachsenhausen drängen sich dazwischen. Er hört die Schreie der Gequälten. Er wünschte, er könnte Christels Stimme hören. Er wünschte, er könnte ihr Gesicht sehen. Er wünschte, er könnte ganz sacht ihre Wange berühren, er wünschte, er könnte noch einen Tag seines Lebens in Freiheit atmen. Das ist ein dummer Wunsch. Er wird ja niemals in Erfüllung gehen. Nun weint Hans doch.
Es ist schlimm mit ihm. Aber er kann nichts gegen die Tränen tun. Jetzt, wo er einmal angefangen hat zu weinen, kann er nicht mehr aufhören. Sein Schluchzen vertreibt die Stille. Aber sobald er zu weinen aufhört, flutet die Stille wieder zurück, erstickender und tödlicher denn je.
Alle Hoffnung liegt auf den Alliierten. Alle Hoffnung liegt auf Gottes
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