Wer wir sind
ohnehin erst drei Jahre alt, aber Casparchen ist schon sieben. Ihm hat sie die Wahrheit nicht verschwiegen. So hat sie also am ersten Abend nach ihrer Rückkehr auf Caspars Bettkante gesessen und weinend ihr weinendes Kind im Arm gehalten, das die schrecklichen Fragen gestellt hat.
»Aber warum? Nie wieder? Niemals wieder? Aber Reyali, warum?«
Freya hat in dieser Nacht nicht geschlafen. Aber am nächsten Tag schon ist das Kind durchs Haus getanzt.
»Reyali ist hier, und sie bleibt nun für immer, Reyali ist hier, und sie bleibt nun für immer.«
Die Russen sind bei Brieg über die Oder gekommen.
Freya bereitet den Treck vor und hofft, nicht trecken zu müssen: In den Schneeverwehungen auf den Pässen sollen Kinder gestorben sein.
Bleibe so lange wie möglich in Kreisau.
Ja, Helmuth. Das will ich.
Wo immer Freya ist, spürt sie Helmuth an ihrer Seite. Freya ist den ganzen Tag auf den Beinen. Überall ruft man nachihr, überall wird sie gebraucht. Aber keine Härte bedrückt sie als hart. Das schrecklich Wirkliche, das sie umgibt, ist nicht wirklich, all das bedrängend Wichtige ist nicht wichtig. Freyas Füße stehen fest und sicher auf dem Kreisauer Boden. Aber sie ist nicht mehr an die Welt gekettet. Es ist ihr, als könnte sie die Schlinge jederzeit abstreifen, die sie bindet. Jeden Tag werden neue Pläne geschmiedet, jeden Tag wird das Leben neu entworfen. Alles blickt zu Freya hin, die es auf sich nimmt zu entscheiden. Freya zögert und zweifelt nicht. Sie wird bei allen Entscheidungen ihrem Herzen vertrauen. Sie schreibt den Poelchaus nach Berlin.
Es ist kühn, an Euch zu schreiben, liebe Freunde! Meine Gedanken sind oft bei Euch, suchen Euch immer wieder in Sorge und Liebe. Mir selbst geht es gut. Ich fange an und ich nicht, sondern es fängt in mir an, und das sind immer die guten Sachen, nicht wahr, Dorothee? Macht Euch keine Sorgen um uns! Ich bin wohl geborgen,
Helmuths Freya
Asta wird den Brief mitnehmen. Das Marinkchen ist im siebten Monat schwanger. Sie verlässt Kreisau mit dem Lazarettzug, der die Kranken, Schwachen und Schwangeren von Schweidnitz nach Westen mitnehmen wird. Freya begleitet den Konvoi zum Bahnhof. Dies ist der Weg, den der kleine Helmuth jeden Tag mit Pferd und Wägelchen zurückgelegt hat, wenn er von Kreisau nach Schweidnitz in die Schule fuhr. Jeden Morgen spannte er den Apfelschimmel vor den Wagen, und dann ging es los, über die Landstraße.
Es sind ja nur sieben Kilometer nach Schweidnitz. Im Sommer ist die Fahrt schön: die Morgenfrische, der Dunst der Wiesen, der Himmel ganz rein, bevor der Tag heiß wird, das leise Sirren der Räder und das Land links und rechts der Allee offenwie ein aufgeschlagenes Buch. Aber jetzt ist alles verdeckt und verschwunden. Der Schnee liegt wie dickes Bettzeug über dem Land. Der Himmel ist grau, voll tief hängender Wolken. Asta sitzt im ersten Schlitten. Freya sitzt im folgenden Schlitten. Sie sieht die Schwägerin hinter einer Kurve verschwinden, dann wieder auftauchen. Dies ist das Mädchen, das zu betreuen Freya einst nach Kreisau gekommen ist, vor wenig mehr als einem Dutzend Jahren und vor einem ganzen Leben. Astas Gesicht ist rückwärts gewandt, still, unwandelbar todtraurig.
Klein Oels treckt. Die alte Gräfin Yorck steht am Fenster des Gartensaals. Sie sieht hinaus auf die Straße, wo unter der Aufsicht ihrer Tochter Doro die Pferdewagen zusammengestellt werden. Bia ist noch immer in Haft. Ihre anderen Söhne sind alle tot. Ein Vogelschwarm wirbelt über die winterliche Allee wie lose Herbstblätter. Schneeflocken wehen in den Teich.
Alexander Stauffenberg ist im KZ Buchenwald inhaftiert. Seine Frau Melitta ist frei. Als militärische Testpilotin der Nationalsozialisten darf sie ihren Mann besuchen, sie darf ihm Lebensmittel bringen, Bücher. Sie hat ihm einen Gedichtband des Meisters gebracht. Alexander hat das Buch aufgeschlagen.
So unterlag er doch der feinde tücke …
Er focht mit wenig treuen wider scharen
Und warum hat Claus seine Getreuen nicht um seinen Bruder Alexander vermehrt? Claus und Berthold: Warum haben die Brüder ihn nicht eingeweiht, warum haben sie ihn geschützt, warum haben sie ihn allein hier zurückgelassen? War er nicht würdig? Wie soll er damit leben? Wie soll er leben, nun wo beide Brüder tot sind? Alexander auf seiner Pritsche im Lagerbau von Buchenwald schließt die Augen. Er hört dieWorte des Meisters, wie sie einst sein Bruder Claus vorgetragen hat, im Dezember 1933 auf dem Friedhof
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