Wer wir sind
endlich verlegt. Dr. Albrecht Tietze holt ihn in seine Klinik, ein Freund seines Schwiegervaters. Hans wird gebadet. Man zieht ihm einen sauberen Schlafanzug an. Durchs Fenster sieht Hans Himmel, Sonne und Mond. Er sieht die kahlen Vorfrühlingsbäume. Tietze beugt sich über ihn, mit freundlichem Gesicht.
»Sie haben es hinter sich, Herr von Dohnanyi.«
Hans schüttelt den Kopf, lacht sogar einmal auf.
»Nein. Ich habe nichts hinter mir.«
»Ihre Seele ist erschöpft. Verdüstert. Das ist nur natürlich. Aber Sie werden wieder Lebensmut gewinnen, Sie werden für sich eine Zukunft sehen können.«
»Nein. Sie verstehen nicht. Es ist nicht wie ein böser Traum, aus dem man erwacht. Es ist wirklich. Dies hier, das Schöne, das ist der Traum.«
Hans weint. Er kann es nicht erklären. Er ist nicht mehr in Sachsenhausen. Aber das KZ besteht, der Hinrichtungsplatz besteht, in Sachsenhausen geht alles weiter, Sachsenhausen geht in ihm weiter. Und da ist Christel. Zum ersten Mal seit dem 22. August 1944 sieht Hans seine Frau. Christel und Hans sind noch einmal vereint.
»Christel? Ich möchte mit Himmler persönlich sprechen.«
»Du willst was?«
»Ich möchte mit ihm reden. Er will ja gar keine Namen mehr wissen. Er will, dass ich ihm die ganze Entwicklung des 20. Juli schildere. Ich bin bereit. Ich will ein Gespräch unter vier Augen.«
»Aber Hans. Das bedeutet doch, du gibst alles zu. Himmler wird dich töten lassen.«
Hans sieht Christel an. Er sieht durch sie hindurch. Sie versteht nicht. Sie kann nicht verstehen, es ist ja ausgeschlossen. Sie ist eine Heilige, ein Engel Gottes. Sie kann ihn nicht erlösen.Das kann nur einer, der in die Verstrickung, die teuflische Verstrickung des Bösen so eingesponnen ist wie Hans selbst. Erlösen kann ihn nur, wer die wirkliche Welt kennt. Erlösen kann ihn nur einer, der genau, ganz genau weiß, was Hans ertragen hat, der besser als jeder andere weiß, wie die Welt ist, die Hans von Dohnanyi in diesen zwei Jahren kennengelernt hat, weil er ihr Schöpfer ist: Heinrich Himmler.
Die Kühe sind weg. Die ganze große Kuhherde von Kreisau, Mittelpunkt so vieler Sorgen und Mühen, ist auf Befehl der Partei nach Waldenburg in den Schlachthof getrieben worden. Der Kuhstall ist leer. Kreisau ist leer: Mitte Februar ist Kreisau zusammen mit Schweidnitz getreckt. Die Schlossbewohner, die Hofeleute, der alte Stäsche, Frau Meyer, die alte Frau Rose haben die Planwagen im Hof des Schlosses beladen, sie haben die Pferde angespannt. Alle Pferde sind fort bis auf die, die Freya braucht, wenn sie selbst gehen wird. Freya will noch warten.
Es liegt noch immer Schnee auf den Eulepässen, und die Straßen sind voller Flüchtlinge. Freya geht durch das verlassene Dorf. Sie steht in der verlassenen Spielschule. Freya ist in einem tiefen Traum. In diesem Traum, den sie träumt, folgt ein Tag dem anderen, und es geht einfach weiter, weiter und immer weiter, also macht Freya weiter. Die alte Gräfin Yorck ist mit ihrer Tochter Doro von Klein Oels eingetroffen. Davy Moltke ist mit den Wernersdorfern und allen Kindern gekommen. Und Marion und Muto sind da. Marion und Muto kommen und gehen. Die Wernersdorfer und die restlichen Yorcks ziehen weiter nach Glatz. Im Kreisauer Schloss ist eine Versorgungstruppe einquartiert, mit Vorräten für die Front, die zehn Kilometer weit entfernt ist. Sie hören den Kriegslärm, Explosionen und Schüsse. Striegau ist genommen, Wernersdorfist russisch. Renate Reichwein steht neben Freya, die an ihrem Schreibtisch sitzt. Romai hat ihren Kindern inzwischen gestanden, wie Edolf Reichwein wirklich gestorben ist, nachdem Freya es ihren Söhnchen gesagt hat.
»Tante Freya? Hasst du die Nazis?«
»Nein. Mein Mann und dein Vater waren gut. Die Nazis konnten sie nicht leben lassen.«
Seit dem 1. April hört Dietrich Bonhoeffer in Buchenwald Geschützdonner von der Werra. Am 4. April werden Canaris’ Tagebücher gefunden. Kaltenbrunner lässt sie sofort zu Hitler bringen.
Verraten! Von Anfang an verraten! Mein Werk von Anfang an unterminiert, von Anfang an Intrigen, Meineid, Täuschung, Schäbigkeit,
Hitler schreit nach Brigadeführer Rattenhuber, dem Chef seiner persönlichen SS-Einheit. Er fordert die Vernichtung der Verschwörer, ihre sofortige Vernichtung. Am 5. April weist die Gestapo den Krankenpfleger Schmidt an, Hans von Dohnanyi zur Entlassung bereit zu machen: Der Häftling soll morgen an einen Ort außerhalb Berlins verlegt werden.
Dr. Tietze und
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