Wer wir sind
alles vorbei, und die Welt geht unter.
»Bitte gib mir das Kind, Marie Agnes. Setz sie doch nicht den Russen aus.«
»Das werden wir nicht, keine Angst«, sagt der Vater.
Dietloff von Arnim-Rittgarten, Landeshauptmann von Brandenburg und Henning von Tresckows Schwager: Weiß er, dass in seiner Babelsberger Villa die Walküre-Pläne getippt worden sind?
Kaum. Der Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes ArthurNebe, der aufgrund seiner Verwicklung in das Attentat vom 20. Juli verhaftet worden ist und am 3. März in Plötzensee sterben wird, hat Anfang 1940 den SS-Sturmbannführer und Leiter des Referats für Chemie und Biologie im Reichssicherheitshauptamt Albert Widmann mit der Giftbeschaffung für die Tötung Geisteskranker betraut. Die erste Probevergasung nahm Widmann im Januar 1940 im Zuchthaus Brandenburg vor, nicht wie später üblich in einer Anstalt der Psychiatrie oder Behindertenhilfe. Auf diese Weise konnte man den für die Landesheilanstalten zuständigen Brandenburger Landeshauptmann Dietloff von Arnim-Rittgarten umgehen, der offenbar kein uneingeschränkter Anhänger der Euthanasie-Aktion war.
Als Gegner kann man Arnim aber auch nicht einstufen. Denn schon im Spätsommer 1940 hat Arnim verlangt, Amtsrichter Lothar Kreyssig, späterer Gründer der Aktion Sühnezeichen und von Anfang an entschlossener Kämpfer gegen die Mordaktion, möge die sogenannte Verlegung seiner Mündel aus den Anstalten gutheißen, weil kriegswichtige Wehrinteressen dies notwendig machten.
Und drückt Arnim-Rittgarten nun sein Gewissen? Fürchtet er, nach Kriegsende zur Verantwortung gezogen zu werden? Hat er schlechtweg keine Lust mehr, sich auf eine neue Folge des Romans einzulassen, der Leben heißt, und bringt deshalb erst Frau und Tochter und schließlich sich selbst um? Oder entscheidet er sich mit seiner Frau zusammen zu diesem letzten Schritt, nachdem sie beide von den Russen drangsaliert worden sind und keinen Ausweg mehr sehen? Und warum nur hat er das Kind nicht seiner Tochter aus erster Ehe mitgegeben? Es ist nicht bekannt. Im April 1945 jedenfalls wird Dietloff von Arnim-Rittgarten seine Tochter, seine Frau und schließlich auch sich selbst vergiften.Den Wedemeyers auf Gut Pätzig ist das Trecken verboten. Die Mutter muss also auf dem Gut bleiben, und Maria ist aus Berlin gekommen, um die Kinder zu retten. Auf den Straßen herrscht Chaos. Die Oderbrücken sind von Leiterwagen und Planwagen verstopft. Lautsprecher brüllen immer wieder Befehle, die Straße für die vorüberrumpelnden Militärkonvois zu räumen. Die Flüchtlinge fluten in Wellen von den Brücken zurück, wo kein Durchkommen mehr ist. Marias kleiner Treck mit den fünf Kindern und drei kranken Frauen steckt fest. Also befiehlt sie, den Wagen zu leeren.
»Was?«
»Weg mit dem Gepäck.«
»Aber Maria!«
»Weg mit dem Gepäck.«
Sie gehen zu Fuß über die gefrorene Oder. Sie gehen in weitem Abstand: Bricht einer ein, sollen nicht alle verloren sein. Maria führt Pferd und Wagen. Der Schnee fliegt ihnen waagrecht entgegen. Maria ist zwanzig Jahre alt. Sie denkt voll Angst an die zurückgebliebene Mutter. Zwei Tage nach ihrem Aufbruch brennt Gut Pätzig.
Freya ist wieder in Kreisau. Sie ist von Berlin zurückgekehrt, von weither. Aber man hat ihr keine Zeit gelassen, allmählich in die veränderte Lage hineinzuwachsen.
Der riesige Innenhof des Hofguts steht voller Planwagen und Pferdegespanne: Flüchtlinge von jenseits der Oder rasten hier, auf ihrem Weg nach Nordwesten. Weitere fünfundzwanzig Flüchtlinge sind notdürftig in der unteren Etage des Berghauses untergebracht. Astas Mann Wend Wendland hat im Schloss seine Flakeinheit einquartiert, die irgendwelches Kriegsgerät nach Hirschberg schaffen soll. Kreisau ist voller Menschen: Die gebrechliche Ulla Oldenbourg ist da, dieSchauspielerin Maria Schanda, Helmuths Berliner Wirtschafterin Frau Pick, Romai mit den Kindern. Alle hier haben auf Freyas Rückkehr gewartet. Nun wird Freya von allen Seiten bestürmt: Wie soll es weitergehen? Was hat Freya vor? Wann will Freya trecken? Was gibt es Neues aus Berlin, wo stehen die Russen? Gibt es irgendwo noch Wolldecken? Gibt es gar keine Glühbirnen mehr? Ist nicht doch noch ein Herd aufzutreiben?
Freya hält Konrädchen auf dem Arm, der sie umklammert. Casparchen hält ihre Beine umschlungen. Es ist ihr nicht in den Sinn gekommen, Romai Reichweins Ausweg zu wählen und den Kindern zu sagen, der Vater wäre an einer Krankheit gestorben. Konrädchen ist ja
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