Wer wir sind
Christel sitzen an Hans’ Bett. Sie reden, sie predigen, sie flehen.
»Du musst fliehen!«
Hans lächelt.
Der Arzt ist sehr blass. Er sagt: »Ich kann das nicht verantworten. Ich kann das nicht tragen. Ich bitte Sie, schießen Sie mich an und nehmen Sie meinen Wagen.«
»Ach, Herr Doktor. Ist dies ein Roman? Wie weit würde ich wohl kommen, in Ihrem Wagen? Ich würde nur Sie und Ihre Familie gefährden.«
»Unsinn. Ich bitte Sie. Ich nehme das auf mich, ich kann Sie nicht ausliefern.«
»Nein.«
Christel weint. Hans hält ihre Hand.
»Geliebteste. Grüße die Kinder. Ich gehe in den Tod. Ich bin sehr ruhig. Sieh doch, wie ruhig ich bin. Sie werden mich ermorden, sie wissen alles. Nun, so ist es also gekommen.«
Sie hält ihn. Sie hält seine Schultern. Sie hält seinen Kopf. Ihre Tränen fallen auf sein Gesicht, was ihm unangenehm ist. Tietze schiebt die Schluchzende hinaus. Er gibt seinem Patienten eine hohe Dosis Luminal, zusätzlich das Morphium, das er gehortet hat. Hans von Dohnanyi wird jedenfalls nicht leiden. Was immer sie mit ihm tun, er wird nichts spüren. Christel sitzt zu Hause am Tisch. Sie schreibt an ihren Mann.
Du weißt, dass ich Tag und Nacht bei Dir bin und mit Dir gemeinsam trage, auch was ich nicht mit Dir erlebe. Was Du mir in den zwanzig Jahren unsrer Ehe gewesen bist, ich weiß nicht, ob Du das weißt. Aber dass nur Glück und Liebe mein Herz erfüllen, Liebe und Dankbarkeit –
An diesem 5. April erfolgt die Ankündigung der Hungersnot durch die Gauämter.
Empfohlen werden neuartige Nahrungsmittel/Ersatznahrungsmittel: Raps, Rapskuchen, Kastanien, Eicheln, Zuckerund Runkelrüben, Seradella, Klee, Luzerne, Wildpflanzen, Wurzeln, Pilze, Frösche, Schnecken, Kiefer- und Fichtennadel-Jungtriebe als Tee gegen Skorbut-Erkrankungen.
Am 6. April gegen Morgen wird Hans von Dohnanyi bewusstlos zurück nach Sachsenhausen transportiert. Auf dem Hinrichtungsplatz tritt das Standgericht zusammen. Huppenkothen erhebt Anklage wegen Hoch- und Landesverrats. Richter,Anklagevertreter, Beisitzer überprüfen das Beweismaterial und behandeln jeden Anklagepunkt. Huppenkothen fordert die Todesstrafe. Das letzte Wort hat der Angeklagte, der bewusstlos auf seiner Trage liegt. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Dann fällt das Todesurteil. Hans von Dohnanyi wird zum Galgen getragen, und dort wird der bewusstlose Körper aufgeknüpft.
Das zweite Standgericht versammelt sich in Flossenbürg. Es verurteilt Dietrich Bonhoeffer und seine Mithäftlinge zum Tode. Im Morgengrauen des 9. April werden Dietrich Bonhoeffer, Admiral Canaris, Hans Oster und Karl Sack im KZ Flossenbürg erhängt.
Am Morgen dieses Tages sind Freya und ihr kleiner Treck losgefahren.
Bleib in Kreisau!
Aber Romai und Frau Pick fürchten hier für sich und die Kinder. Mit welchem Recht könnte Freya dann darauf beharren, dass das Trecken gefährlicher ist als das Bleiben? So haben sie noch Freyas vierunddreißigsten Geburtstag und auch Ostern in Kreisau gefeiert, mit gefärbten Eiern, selbst gekochten Bonbons und Händels ›Messias‹. Dann haben sie Räucherfleisch, Mehl, Erbsen, die letzten Karotten aus der Miete, Federbetten und Kochtöpfe auf den großen Planwagen geladen und sind aufgebrochen. Sie wollen ins Riesengebirge, nach Pommerndorf über Hohenelbe. Das Dorf liegt ganz abseits, bereits in der Tschechoslowakei. Früher, in einem anderen Leben, ist Romai in der Gegend mit Edolf Ski gefahren. Nun hat sie dort ein kleines leerstehendes Bauernhaus gefunden.
Der Tag ist sonnig. Die Luft ist sanft und hell. Freya und Romai fahren auf Fahrrädern neben den beiden Planwagen her, die auch die sechs Kinder und Frau Pick transportieren. Bei Kynauan der Weistritz-Talsperre wird der Weg sehr steil. Freya lässt die Kutscher alle fünf Pferde vor den großen Wagen spannen. Mit einem scharfen Ruck ziehen die Pferde an. Sabine rutscht ab und stürzt zwischen die Vorder- und Hinterräder. Romai kann das Kind gerade noch rechtzeitig hervorreißen.
Sie schreit. Sie schreit und kann lange nicht damit aufhören. Sie empört sich: Dies ist nicht erlaubt. Einst hat Romai Gott ein Kind angeboten. Aber Edolf Reichwein ist tot. Dieses Opfer darf nicht mehr gefordert werden.
Charlotte von der Schulenburg steht mit ihren Kindern im Hof. Die Wagen sind gepackt und mit Teppichen überspannt. Die Vorräte sind verstaut, Decken liegen bereit. Die fünf wilden Schulenburg-Brüder sind alle tot. Tisas letzter Bruder ist im Januar auf Tressow an
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