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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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begleitet sie auf allen ihren Wegen. Marion und Muto sitzen auf einem russischen Lastwagen. Sie nehmen Nebenstraßen. Sie haben illegal die Neiße überquert, oberhalb von Görlitz, auf einem offenen Kohlenwaggon im Regen, sie sind entsprechend verdreckt. Sie tragen Rucksäcke. Es sind leichte Rucksäcke: Sie haben ja nichts. Kein Zuhause, keinen Ausweis, kein Geld, keine Männer oder Kinder, nur ein paar Dosen mit Essen, Zigaretten zum Tauschen. Dennoch sitzen sie auf ihren Rucksäcken, wenn sie in offenen Waggons unterwegs sind: Polnische Marodeure springen oft von den Brücken herunter in die Waggons und werfen alles Gepäck aus dem Zug, um es danach wieder einzusammeln. Peter hat sich gewünscht, dass Marion in Kauern bleibt.
    Ich sah Rosenrabatten mit Frühlingszwiebeln, ich sah Wilhelm Reichert nach seiner Ausbildung auf der Reit- und Fahrschule hochherrschaftlich auf dem Bock und meine Uniform zu Kutscher-Livree umgearbeitet gab ihm das hochherrschaftliche Ansehen, das er als Kutscher der allergnädigsten, allertüchtigsten Frau Gräfin haben muss
    Der Lastwagen hält. Sie springen ab. Sie sind im Hirschberger Tal, im Vorland des Riesengebirges. Auf den Höhenkämmen die ausgebrannten Ruinen von Schlössern und Herrenhäusern. Brachliegende Felder. Disteln. Große Gräber an der Straße, manchmal ein rohes Kreuz darauf. Polen, die ihnen nachsehen, niedrig qualmende Feuer. Hühner. Dann keimende Saat, grüne Wiesen. Felder gelb vom Raps, rot vom Mohn, blau von Kornblumen. Verwüstete Dörfer, Alleen, die in die Ferne ziehen. Ein großes zerstörtes Gehöft. Sie gehen quer über ein Feld, dann die Landstraße entlang. Sie wollen nach Waldenburg, wo Muto als Ärztin praktiziert hat. Sie habendort Freunde. Die Leute in Schlesien sind überglücklich über jeden, der aus Deutschland herüberkommt. Sie freuen sich über alles: über Strümpfe, Nähnadeln, amerikanische Schokolade, sie sind rührend dankbar, dass sie nicht vergessen sind. Aber sie wollen bleiben. Sie wollen, wenn nur irgend möglich, in ihrer Heimat bleiben. Marion nicht. Sie wird sich nirgendwo niederlassen.
    Das Leben, das sie geführt hat, ist vorbei: das Leben mit Stoffservietten, warmen Mahlzeiten, einem Garten, das Leben geborgen an der Seite eines Mannes, umsponnen von seiner Liebe. Aber liebeumsponnen ist sie noch immer.
    Sie ist inniger mit Peter vereint, wenn sie wandert. Sie spricht mit niemandem darüber. Sie spricht überhaupt nicht über die Vergangenheit. Sie spricht nicht über die Zukunft. Sie geht. Wieder hält ein russischer Lastwagen.
    »Mitfahren?«
    Ja oder nein?
    Fahr ruhig.
    »Ja.«
    Der Soldat hält ihr die Hand hin. Marion ergreift sie, klettert auf die Ladefläche, Muto folgt. Über ihnen der Sommerhimmel. Die heiße schlesische Sonne, ganz nah.
    »Und ist es nicht merkwürdig? Nun ist Kreisau endlich schuldenfrei, und nun werden es die Russen bekommen.«
    Das hat Freya letzten Sommer zu Helmuth gesagt.
    »Die Russen oder die Nazis«, hat er geantwortet. »Aber es ist schon besser, Kreisau ist dann schuldenfrei.«
    Und nun wird man Schlesien den Polen überlassen. Polens Westgrenze soll die Oder-Neiße-Linie werden. Ist die Glatzer oder die Görlitzer Neiße gemeint? Kreisau liegt zwischen den beiden Flüssen.
    »Die Glatzer Neiße«, sagen die russischen Soldaten unten im Schloss tröstend zu Freya. »Es ist sicher die Glatzer Neiße.«
    Es ist die Görlitzer. Immerhin hat die polnische Kommandantur erlaubt, dass die Kreisauer bis zur Ernte bleiben dürfen. Nun macht sich Freya auf nach Berlin.
    Die Trümmer sind abgekühlt, die Brände erloschen. In den Ruinen haben sich Felsgräser angesiedelt, Gänsefußarten, Brennnesseln, Beifuß. Wildbienen summen in den Blüten des Schmalblättrigen Weidenröschens, das die Berliner Feuerkraut nennen. In dem ausgebrannten Sowjetpanzer am Brandenburger Tor haben Wespen mit dem Bau eines Nests begonnen. Tauben nisten in der schrundig geschossenen Reichstagsruine. Das Haus in der Hortensienstraße steht noch. Freya schläft unten im Wohnzimmer, auf dem Sofa. Sie kann nun endlich ihrer Mutter schreiben, den Brüdern, Lionel Curtis in England, Dorothy Thompson in den USA. Die Welt beginnt sich wieder zu öffnen. Einmal überfällt sie beim Schreiben der Schmerz mit kaum erträglicher Macht. Sie schreibt ja Helmuths Briefe. Er sollte es sein, der den alten Freunden versichert, alles heil überstanden zu haben, er sollte Dear Dorothy schreiben und Dear Mr. Curtis .
    Und das wird er auch.

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