Wer wir sind
Und war nicht vielleicht Walter mit seiner kurzen, geraden Lebenslinie ein glücklicher Mensch, der glücklichste von allen?
Er zielte und traf. Der Falke stürzte vor seine Füße. Er rannte, dann rannte auch Christel. Sie rannte quer durch den Wald, schneller und schneller, je weiter sie sich von dem Falken entfernte, sie kam auch voran. Zugleich war es ihr aber, als käme sie nicht von der Stelle. Es war, als würde sie nie wieder herausfinden aus der Welt des toten Falken, in die sie leichtsinnig einen Schritt hineingetan hatte und in deren Mitte sie nun gefangen bleiben würde wie in einer Blase: Und dann auf einmal lag vor ihr das Haus. Friedrichsbrunn lag vor ihr. Auf der Wiese spielten die Brüder Ball: Klaus, Dietrich. Jemand sang.
Über die Wellen gleitet der Kahn
Am 22. September 1946 wird Marion Yorck im Berliner Lustgarten eine Rede über die Kreisauer halten, auf einer Feier zu Ehren der Opfer des Faschismus. Professor Robert Havemann wird als Angehöriger der Widerstandsgruppe Europäische Union sprechen, Erich Wichmann für die Beppo-Römer-Gruppe, die Bildhauerin Ruthild Hahne für die Rote Kapelle und Änne Saefkow für die Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe.
Räder müssen rollen für den Sieg,
Köpfe müssen rollen nach dem Krieg!
Ernst Rambow, der Bernhard Bästlein, Anton Saefkow, Julius Leber und Adolf Reichwein an die Gestapo verraten hat, lebt nicht mehr. Er ist von den Sowjets als Verräter verurteilt und hingerichtet worden.
In diesem Herbst 1946 wird Emmi Bonhoeffer erfahren, dass auch ihr geliebter Bruder tot ist. Justus Delbrück, Freund und Mitverschwörer Dohnanyis, Osters und Dietrichs aus dem Amt Ausland/Abwehr, ist schon 1945 an Diphtherie und Unterernährung gestorben, im russischen Umerziehungslager Lieberose bei Jamlitz, vor 1945 ein Außenlager des KZs Sachsenhausen. Und Horst von Einsiedel, Helmuth von Moltkes und Carl Dietrich von Trothas Freund und Mitstreiter seit den Tagen der Löwenberger Arbeitsgemeinschaft, wird am 25. Februar 1947 im sowjetischen Speziallager Nr. 7 auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen ums Leben kommen.
Freya und die Söhnchen werden zu diesem Zeitpunkt Deutschland schon verlassen haben. Sie werden in Südafrika angekommen sein, wohin ihnen viele Mitglieder der Familie folgen. Freya ist der Abschied von Berlin schwergefallen. Aberdie Söhnchen müssen essen, sie müssen zur Schule gehen, sie müssen ins Leben hineinwachsen. Freya wird in Südafrika eine Stelle als Fürsorgerin annehmen. Und sie wird die Briefe finden, die der jugendliche Helmuth einst seinen Großeltern geschrieben hat.
Ich fühle mich erstens Europa, zweitens Deutschland, drittens Ostdeutschland, viertens dem Land verpflichtet, wobei das Maß der Verantwortung mit zunehmender Ausweitung des Kreises schwächer wird.
Sie hört seine Stimme, in diesen Briefen. Sie fühlt seine Nähe. Sie lächelt: der lange Weg, den er gegangen ist und sie mit ihm. Am Ende hatten sich seine Wertigkeiten umgedreht, und verpflichtet fühlte er sich nur noch dem weitesten Kreis der Menschheit. Freya ist oft traurig. Oder nein, das ist so nicht richtig: Die Trauer ist eine dunkle Grundierung, auf der durchaus helle und fröhliche Figuren stehen können. Dies sind ihre Wanderjahre. Sie wird nicht für immer in Südafrika bleiben.
Nina Stauffenberg hat 1953 endlich wieder nach Hause gefunden. Im Januar 1945 hat die Gestapo sie erst in ein Entbindungsheim in einem ehemaligen Schloss der Familie Graf von Castell zu Castell-Rüdenhausen bringen lassen und dann in eine Privatklinik in Frankfurt an der Oder, wo Nina ihr Töchterchen zur Welt gebracht hat. Seit Sommer 1945 hat sie mit ihren Kindern wieder in Lautlingen bei Claus’ Mutter gelebt, acht lange Jahre lang.
Acht Jahre lang war Nina ein Gast. Acht Jahre lang hat sie sich mit allen Kräften um nichts anderes bemüht als darum, ihr Elternhaus wieder bewohnbar zu machen und ihren Besitz zurückzuerhalten, den ihr die Nazis und die Besatzer gestohlen hatten. Sie hat eine umfassende Inventarliste derentwendeten Wertgegenstände erstellt, dann hat sie sich daran gemacht, Stück für Stück, Teller für Teller, Brosche für Brosche, Silberlöffel für Silberlöffel wieder aufzuspüren, in einem Karmeliterkloster, auf dem Schwarzmarkt, in ehemaligen SS-Dienststellen, in einem Luftschutzkeller zwischen Federbetten. Bei einem Bamberger Finanzamtsvorsitzenden hat sie signierte Grammophonplatten und ihren Jagdstock entdeckt, in der Scheune
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