Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
nach einigen Minuten gelang es mir, meiner Aufregung Herr zu werden, und ich wagte es endlich, den Rand des zweiten Vorhangs ein wenig zurückzuschlagen ... O Gott! Dieser gewaltige, düstere Saal, den zu betreten ich mich immer gefürchtet hatte, strahlte jetzt von tausend Kerzen. Ein Meer von Licht schien auf mich einzustürzen, und meine an die Dunkelheit gewöhnten Augen wurden im ersten Augenblick in schmerzhafter Weise geblendet. Eine wohlriechende Luft schlug mir wie ein heißer Wind ins Gesicht. Eine Unmenge von Menschen gingen auf und ab; alle schienen frohe, heitere Gesichter zu haben. Die Damen hatten prachtvolle, hellfarbige Kleider an; überall begegnete ich Blicken, die vor Vergnügen leuchteten. Ich stand wie verzaubert. Es schien mir, als hätte ich das alles schon einmal gesehen, in irgendeinem Traume ... Ich erinnerte mich an die Dämmerstunden, an unsere Dachstube, an das hochgelegene Fenster, an die Straße tief unten mit den leuchtenden Laternen, an die Fenster des gegenüberliegenden Hauses mit den roten Gardinen, an die Equipagen, die sich vor dem Portal drängten, an das Stampfen und Schnauben der stolzen Pferde, an das Geschrei, den Lärm, die Schatten an den Fenstern und an die schwache, ferne Musik ... Also hier, hier war dieses Paradies! ging es mir durch den Kopf; hierher hatte ich mit meinem armen Vater gehen wollen ... Also war das kein leeres Phantasiegebilde gewesen ... Ja, ich hatte das alles schon früher in den Schöpfungen meiner Einbildungskraft und in meinen Träumen gesehen! Meine von der Krankheit entzündete Phantasie lohte in meinem Kopfe hell auf, und Tränen eines unbeschreiblichen Entzückens stürzten mir aus den Augen. Ich suchte mit den Augen meinen Vater: „Er muß hier sein; er ist hier!“ dachte ich, und mein Herz schlug erwartungsvoll ... der Atem stocke mir ... Aber die Musik verstummte; ein Getöse erhob sich, und ein Flüstern ging durch den ganzen Saal. Begierig musterte ich die vor mir vorüberziehenden Gesichter und suchte das eine oder das andere zu erkennen. Auf einmal machte sich eine ungewöhnliche Aufregung im Saale bemerklich. Ich erblickte auf einem Podium einen hochgewachsenen, hageren alten Mann. Sein blasses Gesicht lächelte; er verbeugte sich eckig nach allen Seiten; in der Hand hielt er eine Geige. Tiefes Stillschweigen trat ein, wie wenn alle diese Menschen den Atem anhielten. Alle Gesichter waren nach dem alten Manne hingewandt; alles wartete. Er nahm die Geige und berührte mit dem Bogen die Saiten. Die Musik begann, und ich fühlte, wie mir etwas auf einmal das Herz zusammenpreßte. In unaussprechlichem Grame horchte ich mit angehaltenem Atem auf diese Klänge; etwas Bekanntes ertönte vor meinen Ohren, wie wenn ich es schon irgendwo gehört hätte; es ahnte mir etwas Schreckliches, Furchtbares, das auch für mein Herz die Entscheidung bringen sollte. Endlich klang die Geige stärker; schneller und durchdringender ertönten ihre Klänge. Man konnte glauben, das verzweifelte Wimmern eines Menschen zu hören, klägliches Weinen, wie wenn das Flehen eines Menschen vergebens in dieser ganzen Menge erklänge und matter würde und in Verzweiflung verstummte. Immer bekannter klangen diese Melodien meinem Herzen; aber das Herz wollte nicht daran glauben. Ich preßte die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen; ich klammerte mich an die Vorhänge, um nicht zu fallen ... Mitunter schloß ich die Augen und öffnete sie plötzlich wieder in der Erwartung, daß dies ein Traum sei, daß ich in einem schrecklichen, mir nur zu wohl bekannten Augenblick erwachen würde, und ich glaubte in jene letzte Nacht zurückversetzt zu sein und dieselben Töne zu hören. Wenn ich die Augen öffnete, so wollte ich mich von der Wahrheit überzeugen und blickte gespannt nach der Menschenmenge hin – nein, das waren andere Personen, andere Gesichter ... Es schien mir, daß alle, ebenso wie ich, etwas erwarteten, daß alle, ebenso wie ich, von tiefem Kummer gequält würden, daß sie alle diesem schrecklichen Stöhnen und Wehklagen zurufen wollten, es möge doch verstummen und ihnen nicht das Herz zerreißen; aber das Wehklagen und Stöhnen erklang in immer gramvolleren, immer größeres Mitleid erweckenden, immer länger gezogenen Tönen. Auf einmal erscholl ein letzter, furchtbarer, langer Schrei, und alles in mir erzitterte und erbebte ... Da war kein Zweifel: das war jener selbe, jener selbe Schrei! Ich erkannte ihn wieder; ich hatte ihn schon einmal
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