Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Jede Bemerkung, die ich während unserer Lektüre gemacht hatte, war treffend gewesen, jede Empfindung, die ich geäußert hatte, richtig. In ihren Augen hatte ich mich schon sehr weit entwickelt. Überrascht darüber und entzückt von mir, wollte sie es voll Freude wieder übernehmen, meine weitere Ausbildung zu leiten; sie beabsichtigte, sich nun nicht mehr von mir zu trennen; aber das hing nicht von ihrem Willen ab. Das Schicksal trennte uns bald wieder und verhinderte eine Wiederannäherung. Dazu genügte ein erster Anfall ihrer Krankheit, sowie ein Anfall ihres steten Kummers, und dann folgten wieder Entfremdung, Verschlossenheit, Mißtrauen und vielleicht sogar Ingrimm.
Aber auch in solchen Zeiten der Freundlichkeit hatten wir uns nicht dauernd in der Gewalt. Die Lektüre, ein paar freundliche Worte, die wir miteinander wechselten, die Musik, das alles hatte die Wirkung, daß wir uns vergaßen, uns frei aussprachen, manchmal sogar übermäßig frei; aber nachher hatten wir ein peinliches Gefühl einander gegenüber. Zur Besinnung kommend sahen wir einander wie erschrocken an, voll argwöhnischer Neugier und voll Mißtrauen. Jeder von uns hatte seine Grenze, bis zu der unsere Annäherung gehen konnte; diese wagten wir nicht zu überschreiten, auch wenn wir es gewollt hätten.
Eines Abends vor dem Dunkelwerden las ich zerstreut ein Buch in Alexandra Michailownas Zimmer. Sie saß am Klavier und phantasierte über eine ihrer Lieblingsmelodien aus der italienischen Musik. Als sie endlich zu der reinen Melodie des Liedes überging, begann ich, hingerissen durch die Musik, die mir ins Herz drang, schüchtern die Melodie halblaut vor mich hin zu singen. Bald geriet ich ganz in den Bann der Musik, stand auf und trat zum Klavier; Alexandra Michailowna, die meinen Wunsch zu erraten schien, ging zur Begleitung über und verfolgte liebevoll jeden Ton meiner Stimme. Sie schien von dem Reichtum derselben überrascht zu sein. Ich hatte bisher nie in ihrer Gegenwart gesungen und wußte selbst nicht, ob ich über besondere Stimmittel verfügte. Jetzt gerieten wir plötzlich beide in lebhafte Erregung. Ich ließ meine Stimme immer stärker anschwellen; in mir flammten Energie und Leidenschaft auf und wurden noch mehr angefacht durch Alexandra Michailownas freudiges Staunen, das ich aus jedem Takte ihrer Begleitung heraushörte. Endlich schloß der Gesang in so wohlgelungener Weise, mit solcher Verve und Kraft, daß sie entzückt meine Hände ergriff und mich freudig anblickte.
„Anneta, du hast ja eine wundervolle Stimme!“ sagte sie. „O Gott! Wie ist es nur möglich, daß ich das bisher noch nicht bemerkt hatte!“
„Ich habe es selbst eben erst bemerkt“, antwortete ich, außer mir vor Freude.
„Gott segne dich, mein liebes, unschätzbares Kind! Danke ihm für seine Gabe! Wer weiß ... Ach, mein Gott, mein Gott!“
Sie war durch die unerwartete Entdeckung so gerührt und befand sich in einem solchen Freudenrausche, daß sie nicht wußte, was sie mir sagen und wie sie mich liebkosen sollte. Es war einer jener Augenblicke der Aufrichtigkeit, der gegenseitigen Sympathie und Annäherung, wie sie bei uns schon lange nicht mehr vorgekommen waren. Eine Stunde darauf herrschte schon im ganzen Hause eine festtägliche Stimmung. Es wurde sofort zu B... geschickt. Während wir auf ihn warteten, schlugen wir aufs Geratewohl ein anderes Notenheft auf, in dem mir die Melodien bekannter waren, und fingen ein neues Lied an. Diesmal zitterte ich vor Bangigkeit. Ich wollte nicht durch einen Mißerfolg den ersten Eindruck zerstören. Aber bald machte mich meine eigene Stimme wieder mutig und gab mir Sicherheit. Ich erstaunte selbst immer mehr über ihre Stärke, und bei diesem zweiten Versuche schwand jeder Zweifel. Im Überschwang ihrer ungeduldigen Freude ließ Alexandra Michailowna ihre Kinder und sogar deren Wärterin herbeirufen und ging schließlich, ganz enthusiasmiert, zu ihrem Manne und rief ihn aus seinem Arbeitszimmer heraus, woran sie zu anderer Zeit kaum zu denken gewagt hätte. Pjotr Alexandrowitsch hörte die Neuigkeit wohlwollend an, beglückwünschte mich und war selbst der erste, der erklärte, ich müsse ausgebildet werden. Alexandra Michailowna war ganz glücklich vor Dankbarkeit, als ob er ihr Gott weiß was für eine Güte erwiesen hätte, stürzte zu ihm hin und küßte ihm die Hände. Endlich erschien B... Auch dieser freute sich sehr. Er hatte mich sehr gern, gedachte nicht selten meines Vaters und der
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