Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Alexandra Michailownas Mann haßte, und war gleichzeitig in Verzweiflung über mich selbst. Diesmal wurde ich infolge der steten Aufregung wirklich krank und vermochte nicht mehr, mich zu zwingen. Ich ärgerte mich über alle und jeden; ich verbrachte den ganzen Vormittag auf meinem Zimmer und ging nicht einmal zu Alexandra Michailowna. Sie kam selbst zu mir. Als sie mich erblickte, schrie sie beinah auf. Ich war so blaß, daß ich, als ich in den Spiegel sah, selbst vor mir einen Schreck bekam. Alexandra Michailowna saß eine ganze Stunde bei mir und pflegte mich wie ein kleines Kind.
Aber ihre freundliche Aufmerksamkeit machte mich so traurig, ihre Liebkosungen waren mir so peinlich, und es war mir eine solche Qual, sie anzusehen, daß ich sie schließlich bat, mich allein zu lassen. Sie ging in großer Unruhe um mich fort. Endlich löste sich mein Kummer in einen Weinkrampf auf. Gegen Abend wurde mir besser zumute...
Es wurde mir besser zumute, weil ich den Entschluß gefaßt hatte, zu ihr zu gehen. Ich hatte den Entschluß gefaßt, mich vor ihr auf die Knie zu werfen, ihr den Brief zu geben, den sie verloren hatte, und ihr alles zu gestehen: ihr alle Qualen, die ich ausgehalten hatte, und alle meine Zweifel zu bekennen, sie mit der ganzen grenzenlosen Liebe, die in meinem Herzen für sie, für meine arme Dulderin, glühte, zu umarmen, ihr zu sagen, daß ich ihr Kind, ihre Freundin sei, daß mein Herz vor ihr offen daliege, damit sie hineinschaue und sehe, wieviel heiße, unerschütterliche Zuneigung zu ihr darin wohne. Oh Gott! Ich wußte, ich fühlte, daß ich die letzte war, der sie ihr Herz aufschließen konnte; aber um so sicherer war dann meiner Meinung nach die Rettung, um so machtvoller würde mein Wort wirken ... Ich verstand ihren Kummer, wenn auch nur in undeutlicher, unklarer Weise, und mein Herz wallte auf vor Entrüstung bei dem Gedanken, sie könne vor mir, vor meinem Richterspruch erröten ... „Du Arme, du Arme, bist du denn etwa eine solche Sünderin?“ so wollte ich, ihr zu Füßen fallend, unter Tränen zu ihr sagen. Mein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich; ich war ganz außer mir. Ich weiß nicht, was ich getan hätte; aber ich kam erst später zur Besinnung, nachdem ein unerwarteter Zufall mich und sie vom Verderben errettet hatte, indem er mich gleich beim ersten Schritt anhielt. Da bekam ich nachträglich einen großen Schreck. Wie hätte denn ihr zermartertes Herz zu neuer Hoffnung wieder auferstehen können? Ich hätte sie durch meine Enthüllung mit einem Schlage getötet!
Es ereignete sich nämlich folgendes. Ich war schon nur noch zwei Zimmer von dem ihrigen entfernt, als aus einer Seitentür Pjotr Alexandrowitsch hereintrat und, ohne mich zu bemerken, vor mir herging. Ich blieb wie angewurzelt stehen; er war der letzte Mensch, dem ich in diesem Augenblicke begegnen durfte. Ich wollte schon weggehen; aber die Neugier hielt mich plötzlich an meinem Platze fest.
Er blieb ein Weilchen vor dem Spiegel stehen, strich sich das Haar zurecht, und zu meinem größten Erstaunen hörte ich auf einmal, daß er ein Liedchen sang. In demselben Augenblicke tauchte eine dunkle, ferne Erinnerung aus meiner Kindheit in meinem Gedächtnisse auf. Damit man das seltsame Gefühl verstehen kann, das ich in diesem Augenblicke empfand, will ich diese Erinnerung erzählen. Schon im ersten Jahre meines Aufenthaltes in diesem Hause setzte mich ein Erlebnis in die größte Verwunderung, das mir erst jetzt zu klarem Verständnis kam, weil ich erst jetzt, erst in diesem Augenblicke, den Anfang meiner unerklärlichen Antipathie gegen diesen Menschen erkannte! Ich habe schon erwähnt, daß ich mich bereits zu jener Zeit in seiner Gegenwart immer unbehaglich fühlte. Ich habe schon gesagt, welchen peinlichen Eindruck seine düstere, kummervolle Miene, sein nicht selten trauriger, niedergeschlagener Gesichtsausdruck auf mich machten, wie schwer es mir jedesmal nach den Stunden ums Herz war, die wir zusammen an Alexandra Michailownas Teetisch verbrachten, und endlich was für ein qualvoller Schmerz mir das Herz zerriß, als ich zwei- oder dreimal Zeugin jener schrecklichen, düsteren Szenen war, deren ich schon am Anfang Erwähnung getan habe. Es begab sich, daß ich damals mit ihm ebenso zusammentraf wie jetzt, in demselben Zimmer und zu derselben Stunde, als er ebenso wie ich zu Alexandra Michailowna ging. Ich empfand eine rein kindliche Schüchternheit, als ich ihm allein begegnete, und versteckte mich daher
Weitere Kostenlose Bücher