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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Dostojewski
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Begegnung ans Geländer gelehnt und hörte gar nicht, wie ich mich ihr näherte.
    »Nastenka!« rief ich sie an, mit Mühe meine Erregung bezwingend.
    Sie wandte sich rasch nach mir um.
    »Nun?« fragte sie, »nun? Schneller!«
    Ich blickte sie verständnislos an.
    »Wo ist denn der Brief? Haben Sie den Brief gebracht?« fragte sie, sich am Geländer festhaltend.
    »Nein,« sagte ich, »ich habe gar keinen Brief. Ist er denn noch nicht selbst hier gewesen?«
    Sie wurde entsetzlich blaß und sah mich lange unverwandt an. Ich hatte ihr ihre letzte Hoffnung genommen.
    »Soll er nur gehen!« brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor. »Gott sei mit ihm! Wenn er mich so verläßt.«
    Sie senkte die Augen; dann wollte sie sie heben, um mich anzuschauen, konnte es aber nicht. Noch einige Augenblicke kämpfte sie mit ihrer Erregung; schließlich gab sie den Kampf auf, wandte sich weg, stützte sich auf das Geländer und begann zu weinen.
    »Weinen Sie nicht! Weinen Sie nicht!« fing ich an, hatte aber nicht die Kraft, fortzufahren, als ich sie in solchem Kummer sah; was hätte ich ihr auch sagen können?
    »Versuchen Sie mich nicht zu trösten,« sagte sie, immer noch weinend. »Sprechen Sie nicht von ihm, sagen Sie mir nicht, daß er noch kommen wird, daß er mich gar nicht verlassen hat, so grausam, so unmenschlich, wie er das getan hat. Und warum, warum? War denn etwas in meinem Brief, in jenem unglückseligen Brief, was ihm den Grund dazu geben könnte?«
    Tränen erstickten ihre Stimme; das Herz zerriß mir, wie ich sie so sah.
    »Oh, wie unmenschlich grausam!« begann sie wieder. »Und keine Zeile, keine einzige Zeile! Wenn er mir wenigstens geschrieben hätte, daß er mich nicht mehr brauche, daß er sich von mir lossage; er läßt mich aber drei Tage warten und schreibt nicht eine einzige Zeile! Wie leicht ist es doch für ihn, ein armes, schutzloses Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld es ist, daß sie ihn liebt! Was ich in diesen drei Tagen alles durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! Wenn ich nur daran denke, daß ich den ersten Schritt machte, als ich damals zu ihm hinaufging, daß ich mich vor ihm so erniedrigte und ihn weinend um ein wenig Liebe anflehte ... Und jetzt ...« Sie wandte ihr Gesicht mir wieder zu, und ihre schwarzen Augen leuchteten: »Es ist doch nicht so! Es kann nicht sein! Das wäre unnatürlich! Entweder Sie haben sich getäuscht, oder ich; vielleicht hat er meinen Brief gar nicht bekommen? Vielleicht weiß er bis jetzt von nichts? Wie kann man denn, – urteilen Sie selbst, sagen Sie es mir, denn ich verstehe es einfach nicht! – wie kann man denn an einem Menschen so barbarisch roh handeln, wie er an mir? Nicht eine Zeile! Man hat doch mit dem verworfensten Menschen auf der Welt mehr Mitleid, als er mit mir! Vielleicht hat er etwas über mich gehört, vielleicht hat mich jemand vor ihm verleumdet?« Die letzten Worte schrie sie beinahe. »Nun, was glauben Sie?«
    »Hören Sie, Nastenka, ich will morgen zu ihm gehen und mit ihm in Ihrem Namen sprechen.«
    »Nun, und?«
    »Und ich werde ihn ausfragen und ihm alles erzählen.«
    »Und weiter?«
    »Schreiben Sie einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nastenka! Sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er wird alles erfahren, und wenn ...«
    »Nein, mein Freund, nein!« unterbrach sie mich. »Es ist genug! Er bekommt kein Wort von mir zu hören, nicht eine halbe Zeile, es ist genug! Ich kenne ihn nicht, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ver-ges-sen ...«
    Sie kam nicht weiter.
    »Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich her, Nastenka!« Ich nötigte sie zum Sitzen.
    »Ich bin ja ruhig. Was denken Sie? Das war eben nur so ... Die Tränen trocknen ja bald. Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich zugrunde richten will, daß ich ins Wasser gehe? ...«
    Mein Herz war übervoll. Ich wollte ihr etwas sagen, konnte aber kein Wort hervorbringen.
    »Hören Sie doch!« fuhr sie fort, meine Hand ergreifend. »Sagen Sie: Sie würden doch nicht so handeln? Sie hätten doch die, die als erste zu Ihnen kam, nicht so schmählich verlassen und nicht so schamlos über ihr schwaches, törichtes Herz gelacht?! Sie hätten sie doch geschont? Sie hätten doch daran gedacht, daß sie so einsam war, daß sie sich nicht beherrschen konnte und sich vor ihrer Liebe zu Ihnen nicht in acht zu nehmen verstand, daß sie ganz schuldlos war ... und nichts verbrochen hat ... Ach mein Gott, mein Gott

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