Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
zuweilen dem Menschlichen seinen Zoll zahlen müssen, indem er seinen Zorn (der aber doch wie ein rechter Jehovazorn wirkt) verriet, wie in den »Dämonen«, so würden seine europäischen Leser es noch später gemerkt haben, welch unerbittliches Richtungsgebot aus ihm wirkt. Seine russischen Leser haben es um so schneller gefühlt. Uns mußte erst Tolstoj die Augen über Dostojewski öffnen, Tolstoj, als er aus dem gestaltenden Künstler der predigende Apostel wurde. Die Unterschiede in den Tendenzen der beiden gehen uns hier nicht an. Tolstoj, der bei weiten Kleinere, konnte Sektierer werden, weil er in einem gewissen Sinne Renegat des Westens ist; Dostojewski wuchs stetig, ungebrochen, niemals wirklich aus russischem Gleise geratend, zum großen nationalen Propheten empor, der, indem er das Ganze russischen Volkstums mit ungeheuerer Liebe umfaßte, nur den großen Weg des Ganzen sah und alle einzelnen Fehler, Schwächen, Auswüchse zwar künstlerisch analytisch registrierte (und das mit einer sonden-grausamen Richtigkeit ohnegleichen) aber nie zum Gegenstand des Angriffes machte. Denn auch sie gehören für ihn zum Wesen des russischen Volkes und sind ihm nur die notwendigen Schatten in seinem Bilde. Ja, oft geschieht es, daß wir, dem russischen Wesen fremd, bei seinen Menschen anfangs glauben, sie sollten, in aller Blöße ihrer Gebrechen dargestellt, abschreckend wirken, und schließlich merken wir, daß die Sympathie ihres Erzeugers bei ihnen ist, und ehe wir es uns versehen, empfinden auch wir ihnen gegenüber alles andere eher als Widerwillen. Es tritt eine Art Perversion unseres natürlichen Empfindens ein, – freilich eine Perversion in der Linie christlicher, auch uns eingeimpfter Ideale, aber doch in schwer zu erklärender Weise slawisch, genauer russisch-byzantinisch nuanciert.
Ich spreche immer vom Standpunkt eines Menschen aus, dem Nietzsches Wort von der Umwertung aller Werte nicht zu den leeren Wortschällen gehört, und ich nehme an, daß dieses Wort die Richtung kennzeichnet, in der sich die stärksten Kräfte unserer heutigen westlichen Kultur bewegen. Wer dieses Wort ablehnt (und das kann von Menschen sehr hoher geistiger Potenz geschehen), der müßte, sollte man meinen, Dostojewski ohne weiteres als Wahlverwandten begrüßen. Denn aus Dostojewski spricht Christus , und man muß sehr weit zurückgehen in der Entwicklung des Christusgedankens, um bis zu einem zu gelangen, aus dem er so mächtig gesprochen hat, wie aus ihm. Ich für meinen Teil gelange bis zu Franz von Assisi. Und doch wird ein Deutscher, wie christlich er auch empfinden möge, sei es als Katholik oder als Protestant, kaum mit gutem Gewissen sagen können, daß dieser Christus der seine ist; ja er wird diesen Christus als ein Zerrbild des seinen empfinden, und wahrscheinlich wird er erklären, es sei ein mit inbrünstiger Gewalt entstellter Christus: unheimlich und gespenstisch. Und Dostojewski, sein Verkünder, wird ihm als Mystagoge erscheinen.
Dennoch ist dieser Christus von einer furchtbaren Echtheit, ist Christus in ganzer gigantischer Wahrheit. Und auch der unsere, selbst den nicht ausgenommen, den die starke Seele des ehemaligen Mönchs Martin Luther gesehen hat, wirkt klein daneben: als eine Kompromißgestalt, zugeschnitten auf die religiösen Bedürfnisse von Völkern, zu denen die Lehre des Nazareners als etwas Fremdes gekommen ist. Der Russe Dostojewski aber, der geniale Inbegriff des russischen Volkes in demselben Umfang und derselben Tiefe, in der Nietzsche der geniale Inbegriff westlichen Kulturgewissens ist, (eigentlich seine Wiedergeburt): Dostojewski hat ihn, mit russisch-mystischer Inbrunst in tausend Gestalten (lauter Ausstrahlungen seines russischen Herzens) zerlegt, wiedergeboren und zum künstlerischen Ereignis gemacht, das nicht bloß für Rußland, ja für dieses urchristliche Land weniger als für uns ein Ereignis ist. Dies muß man sich, will man das Phänomen Dostojewski in seiner ganzen, alle ästhetischen Gesichtspunkte hoch überragenden Bedeutung verstehen, immer wieder vergegenwärtigen. Hie Nietzsche, dessen Zarathustra die alten Tafeln (die vom Sinai) zerbricht, hie Dostojewski, der aus seinem russischen Herzen den Ur-Christus aufrichtet. In diesen beiden großen Fühlern, Denkern, Künstlern verkörpert stehen sich zwei wirkliche Weltmächte gegenüber: ein ungeheures Schauspiel, dessen Perspektive wir heute nur ahnen, nicht übersehen können. Kein Wunder, daß daneben alle übrige moderne
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