Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Literatur spielkastenhaft klein erscheint.
Welche Gegensätze! Und nichts als Gegensätze! Es genügt aber, den einen zu erkennen, in dem alle anderen eingeschlossen liegen: hier der Wille zur Macht, dort der Wille zur Demut .
Das ganze westliche Christentum hat eigentlich immer (unbewußt oder bewußt) den Versuch gemacht, diese Gegensätze zu vereinen. Dostojewski und Nietzsche sind sich darin einig, daß das nicht möglich ist. In dieser Erkenntnis ist ihre gewaltige Bedeutung begründet. Scheinbar gehört nicht viel dazu, dies zu erkennen, aber alle genialen Erkenntnisse sind einfach und wirken, erfaßt, als Selbstverständlichkeiten. Die Masse der Menschheit neigt (sie kann nicht anders, es ist ein Gesetz: Bedingung des Lebens) zu Kompromissen; das Amt der großen Genies scheint es zu sein, in gewissen kritischen Momenten, wo das Kompromiß-Prinzip gleichsam ausgeleiert, auf einem toten Punkt angekommen ist, wieder die natürlichen Gegensätze zu erkennen und aufzurichten. Das Genie fängt, kann man sagen, immer von vorn an: es ist Genie, weil es die Quellen kennt, und sich aus den Quellen speist, während wir andern unser Genüge an Mischungen oder Ableitungen finden. Aber die Erkenntnis allein tut es nicht. Erstens muß es, wenn das Wort erlaubt ist, auch Erfühlnis sein, und dann muß eine vollkommene Hingabe an die Idee dazukommen, das erfühlt Erkannte ins Werk zu setzen: wirksam zu machen. Dazu gehört eine produktive Leidenschaft, der alle Lebenskräfte ohne Besinnen aufgeopfert werden. Obwohl Nietzsche gesagt hat: »Ich will kein Heiliger sein«, macht diese Leidenschaft das große Genie gleichzeitig zum Helden und zum Heiligen. Weil, wieder mit Nietzsche zu reden: »höchste Selbstbesinnung der Menschheit« in solchen Menschen »Fleisch und Genie geworden ist«, sind sie bestimmt, sich schaffend zu verzehren: die Menschheit, ihre Menschheit, aus sich heraus gleichsam neu zu produzieren. Nietzsche tat dies, indem er eine Gestalt schuf, den Zarathustra, der der schließliche Inbegriff seiner ganzen Gedankenwelt wurde. Er sah und schuf, kann man sagen, das Vorgesicht des Übermenschen. Mit einem ästhetischen Bild gesprochen: er hat eine Kolossalstatue hinterlassen. Dostojewski hingegen erzeugte dichterisch ein Gewimmel von Menschen und wenn sie auch alle, trotz ihrer naturalistischen Anlage, überlebensgroß gestaltet sind, es sind keine Kolosse. Sie recken sich nicht, sie ducken sich. Nimmt man aber den rechten künstlerischen Abstand vom Gesamtwerk des russischen Riesen, so erblickt man eine ungeheure Figur nach Art der hundertköpfigen, tausendarmigen, alle Geschlechter in sich vereinigenden indischen Götterbilder: das russische Riesenvolk.
Wer Kunst intensiv zu fühlen vermag, erschauert in Bewunderung vor dieser Leistung und erkennt, daß Dostojewski an zeugendem Reichtum schöpferischer Kraft nur mit einem verglichen werden darf, Shakespeare. Er ist der Shakespeare des Romans, ist Rußlands Shakespeare.
Wie bei dem großen Briten, so kann man auch bei ihm Haupt- und Nebenwerke unterscheiden, aber wie bei Shakespeare, so gibt es auch bei Dostojewski kein Werk, das schlechthin als belanglos zu bezeichnen wäre. Wie Shakespeare läßt auch er sich zu Späßen herab, aber man sehe sich nur auch diese Späße genauer an. Sie sind oft mehr komisch, als humoristisch, ja sie mögen auf manchen düsteren Deutschen burlesk, übertrieben wirken. Und die Wehleidigkeit, die sich gern ästhetisch drapiert, wo sie nichts weiter ist, als Sentimentalität im seichtesten Sinne, wird sich über die Grausamkeit beklagen, mit der Dostojewski manchmal zu scherzen liebt, indem er Trauriges, ja Tragisches zum Untergrund seiner Späße macht, – aber eben darin liegt das genial Eigentümliche des scherzenden Dostojewski, daß sein Spaß etwas Konvulsivisches hat, daß sein Humor das Maß landläufig munterer Gefühle überschreitet, daß seine Komik zur Groteske und Karikatur wird, wie die der Alten. Unsere wohltemperierten Humoristen mit ihrem behaglichen Lächeln der Philister-Toleranz (die im Grunde Überhebung ist) haben sich leider von den dunklen Quellen allen Humors so weit entfernt, daß sie glauben, Humor sei identisch mit dem, was sie Optimismus nennen. Sie übertreiben zwar nichts und so auch nicht den, »Humor«, aber sie fälschen das Leben, indem sie es als etwas »Lustiges« hinstellen. Wenn sie sich schon nicht an Dostojewski ein Muster nehmen wollen (oder an Shakespeare, Cervantes, Rabelais), so
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