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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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dazugestohlen. Aber als nun der gute Lorenz mit ihm beten und seiner armen Seele beistehen wollte, trieb der schändliche Bösewicht nur Possen und Eulenspiegeleien.
    Herr Amtsrichter« – fuhr die Erzählerin fort, sich voll nachträglicher Entrüstung zu mir wendend –, »man mag es ja kaum erzählen! ›Juckst du noch?‹ hatte er zu seinem Kopf gesagt, indem er sich in seinen dünnen Haaren kratzte. ›Und morgen sollst du schon herunter!‹ Der alte Lorenz hat das nie vergessen können.
    Der Richtplatz auf dem Galgenberg war so nahe bei der Stadt, daß man von unserem obersten Brauhausboden alles deutlich hätte mit ansehen können; aber während die halbe Stadt hinausgezogen war, steckte ich in dem dunkelsten Verschlage unter der Bodentreppe; denn ich hatte trotz meiner sechzehn Jahre die dumme Idee, daß ich es sonst überall im Hause hören müßte, wenn dem Bösewicht der Kopf herabgeschlagen würde. Erst als meine Mutter anklopfte und rief: ›Es ist vorbei; sie kommen alle schon zurück!‹, kroch ich wieder an das Tageslicht. Ich hör es noch vor meinen Ohren, wie es in dicken Haufen draußen auf der Gasse vorbeizog, und ein Gemurmel und ein Summen als wie in einem Immenschwarm.
    Und das Gerede kam auch noch in Wochen nicht zur Ruh; denn draußen auf dem Richtplatz hart an der Landstraße lag ja Peter Liekdoorns Körper auf das Rad geflochten. Wenn meine beiden jüngeren Geschwister aus der Schule kamen, warfen sie die Bücher hin und liefen auf den Brauhausboden; dann kamen sie mit großen Augen wieder in die Stube; bald hatte meine Schwester zwei Raben auf dem Rade sitzen sehen, bald hatte mein Bruder ganz deutlich wahrgenommen, wie der auf dem Pfahle steckende Kopf mit den dünnen Haaren vom Wind herumgekreiselt war, bis zuletzt mein guter Vater ein Schloß vor die Bodenluke legte und einen Trumpf darauf setzte, es solle von diesen abscheulichen Dingen fürderhin kein Wort im Hause mehr gesprochen werden.‹
    Die Erzählerin nahm ein Schlückchen aus ihrer Tasse und fuhr dann fort:
    »Nicht lange nachher saßen wir – ich weiß noch, es war an einem Sonntag – bei unserer Abendmahlzeit. Da es Reisbrei mit Kaneel und Zucker gab, so hatte ich auch noch unseren Nachbar Ivers dazuholen müssen, dessen Leibgericht das war. Wir hatten uns schon alle zu Tisch gesetzt; auch Lorenz und die Magd; allein mein Bruder fehlte noch. Mein Vater sah sich eben recht verdrießlich nach ihm um, als erst die Haustür und dann die Tür zur Stube aufgerissen wurde und der Junge mit einer Fahrt hereingestürzt kam.
    ›Mein Gott, Christian‹, rief meine Mutter, ›weshalb kommst du nicht zu rechter Zeit? Du weißt doch, daß dein Vater das nicht leiden kann!‹
    ›Ja‹, sagte er, ›aber die Jungens sind alle auf dem Markt zusammengelaufen!‹
    – ›Die Jungens? Was haben die des Abends auf dem Markt zu tun?‹
    ›Nichts‹, sagte Christian; ›sie sprechen nur miteinander.‹
    ›Nun, so sprich du auch jetzt!‹ sagte mein Vater. ›Laß ihn reden, Mutter!‹
    Aber der Junge schwieg und sah seinem Vater starr ins Angesicht.
    ›Christian, so sprich doch, Christian!‹ rief meine Mutter.
    ›Ich darf ja nicht‹, entgegnete er; ›Vater hat ja gesagt, er wolle von dem dummen Zeug nun nichts mehr hören.‹
    ›Nachbar‹, sagte der alte Ivers, der ein Junggeselle und sehr neugierig war, ›so lassen Sie den Jungen doch seine Geschichte von sich tun!‹
    Mein Vater klopfte den Alten mit seinem schelmischen Lachen auf die Schulter. ›Nun, Christian, so schieß denn los; du sollst doch Nachbar Ivers nicht die Nachtruh vorenthalten!‹
    ›Ja‹, sagte der Junge; aber er sah sich erst mal um, ob doch auch alle andern hörten; ›es ist ganz gewiß, sie haben Peter Liekdoorn seinen einen Finger weggestohlen!‹
    – ›Wer hat euch das gesagt?‹
    ›Das hat Ratsdieners Ferdinand uns selbst erzählt.‹
    ›Ei was! Der Fuchs wird ihn geholt haben‹, sagte mein Vater; ›wer sollte denn dergleichen stehlen!‹
    – ›Nein, nein, Vater; das Rad ist viel zu hoch, da können die Füchse nicht daran!‹
    Der alte Ivers hatte schweigend zugehört. ›Sag mir einmal, mein Jüngelchen‹, begann er jetzt, ›was ist’s denn eigentlich für ein Finger?‹
    – ›Wie meinst du das, Nachbar Ivers?‹
    ›Nun, ich meine, ist’s der kleine Finger oder der Goldfinger oder –‹
    ›Nein, nein; es ist der Daumen!‹ unterbrach ihn Christian; ›ich weiß aber nicht, von welcher Hand.‹
    ›So‹, sagte Ivers, ›der Daumen! Das

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