Wernievergibt
Sehenswürdigkeit des kleinen Kaukasuslandes ansehen und wo wir übernachten würden.
»Und Bakuriani. Sie müssen unbedingt nach Bakuriani. Wobei das im Winter ja viel interessanter ist«, erzählte Sopo, während sie, die Beine locker übereinandergelegt, mit dem Fuß wippte und ihre rotlackierten Nägel einer strengen Prüfung unterzog. »Die Berge dort sind ein Traum.«
»Ich schreibe keinen Reiseführer«, gab ich zu bedenken. »Meine Aufgabe sehe ich darin, ein Motto zu finden, das eine solche Reise lenkt, und dem Artikel, den ich schreibe, eine innere Struktur gibt. Das Schwierige ist nur: Ich muss die Reise erst machen, damit ich verstehe, von welcher Kraft sie angetrieben wird.«
Juliane grinste und prostete mir mit ihrem frisch gepressten Orangensaft zu. Keine Ahnung, was es da zu lachen gab.
»Also nicht das übliche Touristenprogramm.«
»Nein. Haben Sie Ihr gutes Deutsch eigentlich in Georgien gelernt?«
»Ja, in der Schule und später an der Universität. Im letzten Jahr war ich ein paar Monate an unserer Partneruni in Düsseldorf.« Sopo wirkte nervös.
Ich glaubte zu verstehen, warum. Unaufgefordert reichte ich ihr einen Umschlag. »Das ist die Anzahlung. Wie ausgemacht. Den Rest am Ende dieser Woche.«
Auf Sopos Gesicht ging die Sonne auf. Gestern hatten wir an der überfüllten U-Bahn-Station auch das Geschäftliche abgesprochen. Wenigstens war ich soweit auf der Höhe der Zeit, dass ich das nicht vergessen hatte. Als Ghostwriterin kämpfte ich oft genug um mein Honorar. Wir hatten einen großzügigen Preis vereinbart. Dafür würde Sopo uns rund um die Uhr zu Verfügung stehen. Soweit schien alles ganz einfach.
»Wie sieht es mit dem kulturellen Leben in Tbilissi aus?«, hakte ich nach. »Und bitte, nicht das typische Programm. Wo sind interessante, kleine Projekte, unbekannte Künstler, ungewöhnliche Mäzene?«
»Sie müssen unbedingt die Galerien in der Chardin Straße und rund um die Sioni-Kirche besuchen«, schwärmte Sopo.
»Was uns brennend interessiert«, schaltete Juliane sich ein. »Kennen Sie den Kinderchor ›tschweni sakartwelo‹?« Sie sprach die zungenbrechenden Silben so gekonnt aus, als hätte sie seit Tagen nichts anderes geübt.
»Sicher. Der Chor ist ziemlich bekannt.« Sopo überlegte. »Soweit ich weiß, kommt er aus Balnuri. Ein ehemals deutsches Dorf.«
»Wie kommt ein deutsches Dorf nach Georgien?«, fragte ich.
»Kennen Sie die Geschichte nicht?« Sopo klang vorwurfsvoll. »Im 18. Jahrhundert hatte Katharina II. ihr Riesenreich in den Süden des Kaukasus ausgedehnt. Sie brauchte Leute, die sich dort ansiedelten, um mit dem Land etwas anzufangen.«
»Ja, und dann kamen eine Menge deutsche Forschungsreisende, Professoren, Lehrer, Winzer und Wissenschaftler hierher«, knüpfte Juliane an. »Vor allem Württemberger. Sie hatten zu Hause irgendwelche weltanschaulichen Probleme mit ihrer Regierung. Aus dieser Zeit stammen die deutschen oder vielmehr schwäbischen Dörfer.«
Ich war baff. Dass ich kein Crack in Geschichte war, damit konnte ich leben, aber dass Juliane mich rechts überholte? Wahrscheinlich ging es mit der Bildung tatsächlich von Generation zu Generation bergab.
»Nach dem Einmarsch Hitlers in die Sowjetunion 1941 wurden die Deutschen nach Kasachstan oder Sibirien deportiert«, machte meine Ersatzmutter weiter. »Viele überlebten den Exodus und die grauenvollen Strapazen nicht. Erst nachdem 1955 die Sowjetunion den Kriegszustand mit Deutschland offiziell für beendet erklärt hatte, konnten die Überlebenden in ihre Heimat Georgien zurückkehren.«
»Auch in anderen Ortschaften Georgiens leben noch ein paar versprengte Deutsche. Hier in Tbilissi gibt es eine deutsche protestantische Gemeinde mit eigener Kirche und Gemeindezentrum, und soweit ich weiß, haben sie Ableger in ein paar anderen Städten«, beendete Sopo die Lehrstunde.
»Also: ›Tschweni sakartwelo‹ – der Chor ist berühmt?«
»Sie sind erst vor Kurzem aufgetreten. Mit Clara Cleveland.«
»Die bei ihrer Freundin Tamara nicht angekommen ist.«
Alle drei sahen wir uns an.
»Clara Cleveland stammt auch aus Georgien«, sagte Sopo. »Sie ist eine Nachfahrin der eingewanderten Deutschen. Kam in Balnuri zur Welt und siedelte als Kind nach Deutschland aus, nachdem Gorbatschow an die Macht gekommen war, und es einfacher wurde, das Land zu verlassen.«
»Sie ist in München ein Star!« Juliane richtete sich auf. Sie sah aus wie Sopos Negativ: weißes Haar, eine weiße Bluse und
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