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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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bevor ein Knirps sie mit bloßen Händen ausgegraben hatte. Vernunft hatte ihr nicht geholfen, als sie halb wahnsinnig vor Durst, Mund und Nase voller Staub, verkrümmt dagelegen hatte. Der Glaube? Medea hatte die Erfahrung gemacht, dass Religion nur eine Art verlängerter Arm der Intuition war. Eine autorisierte Fassung, die der Mensch an die Kirche abgeben konnte, um sich nicht allzu sehr zu ängstigen vor den Kräften, über die er verfügte. Es war einfacher, an eine alles lenkende Schicksalsmacht zu glauben als an Millionen winziger Zufälle.
    Der Krieg mit Russland vor zwei Jahren hatte alles zum Einsturz gebracht. Sie verräumte die Hoffnung, irgendwann zu ihrem alten Leben zurückkehren zu können, tief in ihrem Innersten. Die politische Situation im Land war explosiv, die Oppositionsparteien boten sich unklaren Interessen feil, Prostitution auf höchster Ebene, fand Medea, und was vom derzeitigen Staatspräsidenten zu halten war, das entzog sich selbst ihren feinen Antennen. Irgendwie mochte sie ihn, seine jugendliche Art, sein Lächeln, seine Effektivität, mit der er die korrupten Geschäftemacher ausgebremst hatte. Dass er für die Rentner kaum etwas tun konnte, lag nicht an ihm allein. Medea wäre alt genug für eine vernünftige Rente und einen ruhigen Lebensabend. Die landesübliche Allgemeinrente betrug um die 80 Lari, und davon konnte man in der Stadt maximal zwei Tage überleben. In Kasbegi etwas länger. Medea strich der Ziege über den Kopf. Sie streifte die Gummistiefel ab, schob die Tür zu ihrem kleinen Holzhaus auf, die sie noch nie abgeschlossen hatte, trat ein und legte ein paar Scheite in den Ofen. Das Häuschen schmiegte sich an das Ufer des Terek, nur von einem breiten Wiesenstreifen von dem schäumenden Fluss getrennt. Medea liebte es, des Nachts das Wasser rauschen zu hören. Oft gab sie dem Fluss mit, was sie zu erzählen hatte, und der spülte es fort. Den Schmerz, die Fremdheit, die Geldsorgen, manchmal auch den Hunger. Ihr Zuhause war ärmlich, aber ein Platz, an dem sie sich geborgen fühlte.
    Doch die beiden Frauenköpfe in der Kaffeetasse jagten ihr Furcht ein. Medea wusste sehr genau, dass es so etwas wie Sicherheit in einem Menschenleben nicht gab. Sie schloss die Augen und begann ein Gespräch. Halblaut, denn nur die Ziege und der Fluss lauschten, und von beiden drohte keine Gefahr.

11
    »Also, hör mal!«, regte Juliane sich auf.
    Wir saßen an der Hotelbar, es war halb elf nachts, und ich sehnte mich nach meinem Bett. Gleichzeitig war ich aufgedreht, vollgesogen mit Eindrücken wie ein Schwamm.
    »Wenn du mich besuchen willst und du tauchst nach zwei Stunden nicht auf, sehe ich zu, dass ich herausfinde, wo du abgeblieben bist.« Juliane hob ihr Bierglas. ›Natachtari‹ stand darauf. Ein spritziges, goldgelbes georgisches Bier. »Diese Tamara macht große Augen, weil ihre Freundin nicht aufkreuzt, und geht ihren Geschäften nach.«
    »Sie waren vielleicht nicht besonders gut befreundet«, vermutete ich und griff in die Schüssel mit den Oliven.
    »Das ist eine ganz schöne Strecke, von Tbilissi nach Sighnaghi!« Juliane entfaltete eine Straßenkarte. »Du kannst die hiesigen Straßenverhältnisse nicht mit denen in Deutschland vergleichen.«
    »Klingt, als wärst du schon oft in Georgien unterwegs gewesen.«
    Juliane achtete nicht auf meine Spitzen. »Zwei Stunden wird man sicher brauchen. Ratterst du so eine Strecke weg, um jemanden zu besuchen, der dir eigentlich nicht wichtig ist? Was mich zudem wundert: Hat diese Clara Cleveland keine Bezugspersonen in Tbilissi? Einen Agenten, Manager, irgendwelche Kontakte, die vielleicht mal bemerken könnten, dass die Operndiva verlustig gegangen ist?«
    Ich klappte mein Notebook auf und suchte mir eine drahtlose Verbindung ins Internet. »Lass uns gucken, ob Clara noch ein anderes Konzert hat platzen lassen.«
    Kurz darauf hatte ich die Webseite von info-tbilisi.com auf dem Schirm und damit einen ausgeklügelten Plan zu den kulturellen Veranstaltungen in der Hauptstadt.
    »Sieh einer an«, murmelte ich. »Ihr letztes Konzert war am 28.3. in der Philharmonie, zusammen mit dem Kinderchor ›tschweni sakartwelo‹, was auch immer das bedeutet.« Ich winkte der jungen Frau, die mit neonblond gebleichter Mähne hinter der Theke stand und lustlos Gläser polierte.
    »Es heißt ›Unser Georgien‹«, übersetzte sie gleichgültig. »Möchten Sie noch Oliven?«
    Ich nickte abgelenkt. »Und danach – Pause. Erst für heute Abend ist

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