Wernievergibt
Rustaweli-Avenue bei Nacht genossen, waren lange durch die schmalen Seitenstraßen gestromert, um schließlich in einem kleinen Lokal mithilfe von Julianes Russischkenntnissen ein delikates spätes Abendessen einzunehmen. Sopo war längst nach Hause gegangen. Lynn konnte mich mal mit ihrer Drängelei.
»Und morgen? Solltest du mit der verbleibenden Zeit nicht sorgsamer umgehen?«, erkundigte sich Juliane. »Was wird aus dieser Reise? Eine Suche nach Mira? Ein Artikel über das musikalische Georgien? Oder vielleicht ein Beitrag im Sinne deiner Agentin, die sich für den Tourismus nach dem Augustkrieg interessiert?«
Ich schnaubte. »Keine Ahnung, Juliane. So war das meistens auf meinen Reisen. Ich flog mit einer klaren Idee im Kopf los und war, kaum angekommen, völlig verwirrt. Bis sich gegen Ende der Reise wie von selbst ein neues Gerüst für den Artikel aufbaute.«
»Tu, was du nicht lassen kannst. Ich hau mich in die Koje. Bis morgen, Herzchen.« Sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange. Perplex saß ich einige Minuten allein da. Schließlich fiel mir ein, dass ich Nero noch nicht angerufen hatte. Außer einer kurzen SMS, ›Sind gut angekommen‹, war unsere Kommunikation auf minus Null geschrumpft.
Ich ging auf mein Zimmer, warf mich aufs Bett und wählte Neros Mobilnummer. Er antwortete nicht. Obwohl es in Deutschland erst neun Uhr abends war. Ich wusste ohnehin nicht, wie ich auf seine Stimme reagieren würde. Durchdrehen, weil ich ihn verdammt noch mal vermisste? Oder würde ich feststellen, dass ich ihn eigentlich gar nicht vermisste? Weil es Spaß machte, mit Juliane durch die Welt zu ziehen? Es war das pure Vergnügen! Ich hatte meine anfängliche Panik überwunden, glaubte ich zumindest, und begonnen, dieses merkwürdige Land, diesen klaffenden Spalt zwischen Europa und Asien, zu lieben.
Ich hatte keine Lust, ins Bett zu gehen. Wach war ich, wie aufgedreht.
Ich zog mir einen Pullover über und verließ das Hotel. Zuerst wollte ich zur Rustaweli-Avenue hinuntergehen. Doch ich nahm die andere Richtung und verlor mich im Stadtteil Vere. Die Luft war so mild, dass ich nach kurzer Zeit ins Schwitzen geriet. Ich kam an winzigen Läden vorbei, in denen selbst mitten in der Nacht Lebensmittel verkauft wurden. Sofort beneidete ich Georgien um seine liberalen Gesetze. Wo man einkaufen durfte, wann immer man wollte, und die Stadtviertel nicht per Dekret ab spätestens 20 Uhr menschenleer dalagen. Ich kaufte mir eine Schachtel Zigaretten.
Tbilissi war eine Großstadt nach meinem Geschmack. Eben genau das: groß, mit allen kulturellen und sonstigen Möglichkeiten. Dennoch herrschte abseits der Prachtstraßen eine gewisse Entspanntheit. Hier war Platz für Katzen, die ihren Affären nachgingen, Leute mit Bauchläden und verbeulte Mopeds. Ich kam an kleinen Restaurants vorbei und passierte verwinkelte Ecken, die mich an Neapel erinnerten. Doch während Italien mit seiner Heiterkeit und der guten Laune seiner Bewohner punktete, wirkte Georgien trotz des südlichen Lebensgefühls zurückgezogen und verschlossen.
Links über mir erhob sich der Mtatsminda, auf dessen Gipfel der kitschige Fernsehturm glitzerte. Mir war warm. Ich zog meinen Pullover aus. Ich stand in einer schmalen Straße, in der es außer mir kein menschliches Leben zu geben schien. Unter meinen Füßen war der Asphalt aufgerissen. Wieder durchdrang mich dieses Gefühl, den Atem der Erde zu spüren.
Die Häuser waren durch große Holztore verschlossen. Wein rankte über die Bretter. Man sah Licht, hörte Zankereien, Lachen, das Klappern von Geschirr. Alles lauter als in Deutschland, näher, energischer. Ich mochte es.
Kein Zweifel: In diesem Viertel konnte man sich verfransen, verloren gehen eher nicht. Die Orientierung am Fernsehturm und an dem immer steiler werdenden Hang Richtung Mtatsminda war einfach. Ich hörte genau, wo die großen Avenuen verliefen. Motorengeheul, quietschende Bremsen, Sirenen, erbostes Jaulen, fantasievolles Hupen – man musste taub sein, um sich hier nicht zurechtzufinden.
Tbilissi liegt zwischen zwei Bergketten wie zwischen den Schenkeln einer Frau, hatte Sopo erklärt und lachend angemerkt: Wir Georgier lieben erotische Anspielungen. Ich nahm mir vor, bei Tag auf den Mtatsminda zu fahren, um den Blick von oben zu genießen. Dabei fiel mir gerade jetzt auf, wie schön die Stadt in der Nacht war. Am Tag, unter dem unbarmherzigen Licht der Sonne, hatte sie kaum Chancen, ihre Narben, Schäbigkeiten und
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