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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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schwärenden Wunden zu verbergen. Architektonische Ungeheuerlichkeiten aus der Sowjetzeit, neue, blitzende, beinahe unwirkliche Glasgebäude und zerfallende Betonblocks drängten sich in den Vordergrund und bildeten zusammen mit dem im steten Wind umherwirbelnden Staub, den blauen Abgasschwaden und dem nicht endenden Lärm eine bröckelnde Make-up-Schicht auf dem verlebten Antlitz der Stadt. In der Nacht aber, im Gewand der Finsternis, machte Tbilissi sich zurecht. Wie eine Frau vor dem Liebesakt die sanften japanischen Papierlampen brennen lässt und alle grellen Beleuchtungen abschaltet, um Cellulitis und Fältchen unsichtbar zu machen, bevor sie ihren Liebhaber zu sich ins Zimmer ließ. Im Zauber der südlichen Nacht, in der alles anders ist als in der nordischen Kälte, ging die Hauptstadt in Samt und Seide. Ich glaubte, einen Hauch ihrer einstigen Eleganz zu ahnen.
    Der Duft von blühenden Kastanienbäumen hing in der Luft. Ich kam an einem abchasischen Restaurant vorbei. Hatte den Eindruck, die Straße zu kennen, war mir nicht sicher.
    Ich ging und ging. Stolperte über Löcher im Boden und trat auf ein Fellknäuel, das mit einem Fiepen davonstob, und von dem ich nicht wusste, ob es Katze oder Ratte war.
    Irgendwann ließ ich mich den Hang hinuntertreiben und gelangte auf eine breite Straße, die sich in der Mitte zu einem Kreisel verdickte. Direkt vor mir lag die Philharmonie. Passenderweise hatte sich Elvis Presley dort häuslich eingerichtet: Im Parterre und ersten Stock strahlten die grell erleuchteten Fenster eines amerikanisches Schnellrestaurants. Ich hatte Appetit, rannte zwischen den hupenden Jeeps und klappernden Ladas hindurch und stieß die Tür auf.
    Am Tresen beäugte ich misstrauisch die auf georgisch und englisch verfasste Speisekarte. Ein Wein wäre nicht schlecht. Der georgische Wein war, so hatte Sopo berichtet, unglaublich gut, fruchtig, samtig, getränkt von Sonne und teils enorm hohen Hanglagen. Wir würden morgen ins Weingebiet Kachetien fahren, also sollte ich mich einstimmen.
    »Hi. Auch Ausländerin?«, fragte mich ein junger Mann mit einem Weinglas in der Hand.
    »Und selbst? Woher kommst du?« Wir sprachen englisch. Die leidige Du-Sie-Frage war von vornherein geklärt.
    »Tel Aviv. Israel.«
    »München. Deutschland.«
    Er zuckte die Achseln. »Tolles Land. Ich war erst letztes Jahr auf dem Oktoberfest. Schon mal dort gewesen?«
    Oh, durchaus, dachte ich und nickte nur. Mein Oktoberfestabenteuer im letzten Herbst hatte mich einiges an Nerven gekostet. Kaum zu glauben, zu welchem Hass Menschen fähig waren. Und zu welchen Fehlern. Aber das wollte ich Thomas, wie er sich vorstellte, nicht zumuten. Ein junger Typ, vielleicht 30, wenn überhaupt. Funkelnde schwarze Augen in einem ebenmäßigen Gesicht. Der Mann hatte noch etwas vor sich.
    »Wie wär’s mit einem Glas Saperavi? Eine georgische Rebsorte, vollmundig.«
    Ich nickte. Er war mindestens zehn Jahre jünger als ich.
    Er erzählte, dass Elvis Presley ein israelisches Restaurant sei, dessen Eigentümer weiter in der Welt expandierten.
    »Wie kommt ein Israeli nach Georgien?«, fragte ich.
    »Im Vergleich zu uns ist es hier ruhig. Vielleicht seht ihr Deutschen das anders.«
    Da sagte er etwas Wahres.
    »Falls du mit klassischer Musik was anfangen kannst: Ab morgen finden hier in der Philharmonie Kammerkonzertabende statt. Ich könnte Karten besorgen.«
    Ein Teller Chips parkte vor meiner Nase. Der Rotwein entspannte mich, die Chips waren genau die Sorte, die ich mir zu Hause aus Kaloriengründen verwehrte, ich unterhielt mich mit einem gut aussehenden Mann. Exakt die Mischung, die, seit ich mit Nero zusammen war, nicht mehr sein durfte.
    Thomas hatte schwarze Haare und einen tollen Body, der sich unter einem schwarzen Shirt mit Elvis-Aufdruck abzeichnete. Die weiße Jeans dazu machte sich so richtig gut. Kein Cordjackett, wie Nero es trug, wenn ich diese modische Entgleisung nicht rechtzeitig verhinderte.
    Ich ahnte, wo ich heute Nacht landen würde, wenn ich nicht sofort in die Bremsen stieg. Das tat ich am besten, indem ich das Thema in die Unterhaltung einflocht, das mich momentan am meisten beschäftigte: Clara Cleveland, die verschwundene Diva.
    »Ich mag lieber Chöre. Gibt es da auch was zur Zeit?«
    »Der große Chorabend mit ›tschweni sakartwelo‹ lief schon. Vor zwei Wochen. Mit dieser enorm gut aussehenden Cleveland.« Aus der Gesäßtasche seiner Jeans förderte er ein iPhone zutage. »Hier.« Das Foto, das er mir

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