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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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gewalttätig. An ihm kann sie ihren Frust nicht auslassen, ohne sich in Gefahr zu bringen. Aber der kleine Sohn, der kann sich nicht wehren. Den kann sie exerzieren lassen, bis er seelisch verendet. Ist er vielleicht schon. Sie merkt es nicht. Wehe, wenn er alt genug ist, sich zu rächen. Und wenn er sie später einfach ins Altersheim abschiebt.«
    »Schuldgefühle«, sagte ich langsam, »hat jeder von uns irgendwie.«
    »Weißt du, es ist nicht allzu schwer, anderen zu vergeben.«
    Uns selbst zu verzeihen, ist das Härteste, ergänzte ich im Stillen. Ich wusste nicht, was ich mir selbst zuerst vergeben sollte. Meine Gleichgültigkeit Nero gegenüber, den ich nicht anrief? Meine kurze heiße Story mit Thomas, dem Israeli? Ich watete durch etwas Unbestimmtes, fühlte die Grenzen meiner Identität verschwimmen. Dort draußen wartete das Nichts. Wieder spürte ich den Berg unter mir atmen.
    Clara hatte ihre Situation als aussichtslos empfunden. Sie hatte etwas wirklich Mutiges getan: sich selbst verschwinden lassen.
    Warum hatte sie Tamara nicht angerufen? Die beiden waren Freundinnen, sie wusste, dass Tamara sich Sorgen machen würde. Könnte Clara sich diese Indifferenz vergeben? Oder war ihre Psyche auf Stand-by gesetzt? Litt sie am Ende an einer Amnesie, irrte durchs Land und kam nirgendwo
an, weil sie nicht wusste, wohin die Reise gehen sollte?
    »Wenn du nicht weißt, wohin«, fragte ich leise. »Welches ist die erste Adresse?«
    »Ein Ort, wo du ein Mensch sein kannst«, erwiderte Juliane ruhig.
    »Ihre Großmutter?«
    »Wenn sie noch lebt. Ulkig, oder?«
    »Was meinst du?«
    »Die Großmutter taucht ab und 20 Jahre später die Enkelin. Als wäre es abgemacht.«
    Wir verließen das Restaurant und machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle, nur um festzustellen, dass der letzte Bus längst weg war. Während wir beratschlagten, ob wir ein Taxi bestellen oder per Anhalter den Weg ins Tal hinunter wagen sollten, hielt ein Schiguli neben uns. Der Typ von eben, der auf Juliane scharf war.
    »Obacht!«, warnte ich.
    Juliane winkte ab. »Das geht nicht schief, Kea.«
    Mit einem mulmigen Gefühl quetschte ich mich auf die Rückbank. Die Seitenverkleidung war herausgerissen. Vor meinem Gesicht baumelten Reste der Deckenverkleidung. Das Gefährt setzte sich in Bewegung. Der Mann sprach deutsch.
    »Ich bin geschäftlich in Tbilissi. Komme eigentlich aus Bischkek. Kirgistan. Und Sie?«
    Ich ließ Juliane antworten. Warum ich hier war, wusste ich nicht mehr. Wahrscheinlich gab es keinen Grund. Womöglich gab es im Leben für nichts einen Grund. Unsere Wahrnehmung, dass wir Dinge taten, weil es andere Dinge gab, die sie hervorriefen, beruhte vermutlich auf nichts anderem als einer Täuschung. Menschen ertrugen es nicht, Sinnloses zu tun. Aus diesem Grund unterstellten wir allem eine Ursache und suchten nach Konsequenzen, bis uns schwindelig wurde.
    Wir waren kaum einen Kilometer gefahren, als der Mann den Motor abstellte. Mitten auf der einsamen, finsteren Straße.
    »Das ist ein obskurer Ort«, sagte er.
    Ich hätte Juliane würgen können für ihre sogenannte Menschenkenntnis.
    »Merken Sie es?«, fragte er begierig.
    Ich sah aus dem Fenster. Da war nur Dunkelheit, in der die Pinien am Straßenrand auf den Morgen warteten. Kurz meinte ich, das Flecktarn eines ossetischen Milizionärs aufblitzen zu sehen. Der kirgisische Geschäftsmann schaltete die Scheinwerfer aus.
    »Witzig!«, sagte Juliane.
    Sie war nicht mehr ganz dicht. War sie auf ein Quickie aus? Ich würde gern draußen warten, kein Thema, meine Generation ging ja ganz relaxt mit Sex um. »Wow!«, sagte Juliane.
    Der Wagen bewegte sich. Von selbst. Unser Chauffeur hob die Knie um zu zeigen, dass er kein Gas gab. Leicht wie eine Schwalbe rollte der alte Schiguli den Hang hinauf. Bedächtig, aber unverkennbar aufwärts. Ohne Motor.
    »Verrückt, oder?«, fragte der Kirgise. Ich starrte ins Dunkel. Im Schneckentempo glitten wir an den Baumschatten vorbei. Angetrieben von einer geheimnisvollen Kraft. »Immer, wenn ich in Tbilissi bin, fahre ich hier rauf«, sagte der Kirgise.
    »Warum?«, brachte ich hervor.
    »Ist einfach ein verrückter Platz.« Er lachte. »Muss irgendwie magnetisch sein. Ich habe in der DDR studiert. In Leipzig. Kennen Sie Leipzig?«
    »Nein«, antwortete ich. »Was ist das?«
    Juliane hustete im erfolglosen Versuch, einen Lachkrampf zu unterdrücken.
    »Ich möchte tanzen gehen!«, sagte ich. »Können Sie uns zu einer Disco fahren?«

33
    Um fünf

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