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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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wesentlichen Aufschriften auch auf Englisch zu lesen waren, sackten in der Unterwelt die Buchstaben von den Wänden. Sie rutschten einfach vom Beton und hinterließen flächige Schatten, die aussahen wie Schimmelflecken. Wir sahen keine einzige lateinische Aufschrift, als wir am Freiheitsplatz durch die Sperren eilten und auf hölzernen Rolltreppen in die Tiefe rasten. Pläne gab es keine. Wo ich mich in München problemlos an bunten Schnüren orientierte, die die ganze Stadt und das Umland durchzogen wie überlange, bunte Amöben, standen wir in Tbilissi ratlos zwischen den Bahnsteigen.
    »Wohin jetzt?«, fragte Juliane.
    Das machte mich wütend. »Woher soll ich das wissen?«, knurrte ich zurück.
    »Du hast einen Kater.«
    »Lass mich in Frieden.«
    Da tat Juliane etwas, was sie nie tat. Sie nahm mich in die Arme und drückte mich kurz an sich. Schon stand ich wieder allein da.
    Üblicherweise verhielt sich Juliane eher distanziert. Was nicht bedeutete, dass sie abweisend oder misanthropisch war. Im Gegenteil: Sie hatte ein Herz so groß wie der ganze Globus und war stets bereit, von seiner Wärme abzugeben. Manchmal gab sie zu viel und blieb geschwächt zurück. Üblicherweise zeigte sich ihre menschliche Großzügigkeit nicht in spontanen Umarmungen. Fast zufrieden dachte ich: Auch Juliane hebt es von den Füßen in diesem Land.
    Ein junger Typ mit einer Computertastatur unterm Arm blieb neben uns stehen. »Can I help you?«
    Geduldig erklärte er uns, wie wir fahren und wo wir umsteigen mussten. Zwei ältere Männer mischten sich ein. Einer sprach gebrochen deutsch, redete etwas von einer deutschen Kindergartentante und begann, ›Fuchs du hast die Gans gestohlen‹ zu singen.
    Bevor ich in Tränen ausbrechen konnte, vor Rührung, vor Kopfschmerz und Verwirrung, zog Juliane mich mit sich, in eine Bahn, von der ich annahm, dass sie in wenigen Minuten in ihre Einzelteile zerfallen würde. Der Zug ratterte in einem Affenzahn durch eine dunkle Hölle aus Nichts. Eine alte Frau, vielleicht 100, vielleicht 130 Jahre alt, schleppte sich durch den Waggon und hielt ihre Hand flehend unter jede Nase. Juliane legte ein paar Münzen hinein und erhielt zum Dank unzählige Bekreuzigungen. Die rechte Augenhöhle der Frau war leer.
    Am Hauptbahnhof stiegen wir aus und fragten nach dem Durchgang zur Saburtalo-Linie. Der Tunnel, den uns ein Mädchen zeigte, war besiedelt von den Verlorenen der Post-Sowjetunion. Eine blinde Frau klimperte auf einer Gitarre, ein Einbeiniger lehnte wie abgestellt an der Wand und hielt einen Hut. Ich hatte den Eindruck, er schlief. Mütterchen, so alt, dass sie vermutlich den letzten Überfall der Perser auf Tbilissi miterlebt hatten, bettelten um ein paar Münzen. Ich erwartete, dass Juliane ein kurzes Traktat über den Pyrrhussieg des Kapitalismus vom Stapel lassen würde, aber sie saugte nur wie ein Schwamm all die widersinnigen Eindrücke auf und schwieg.
    Der nächste Zug war in den georgischen Nationalfarben Rot und Weiß gestrichen und ratterte ansonsten genauso lautstark durch die Röhren der Hauptstadt. »Zähl die Stationen mit«, forderte Juliane mich auf. »Es müssen vier sein.«
    In Delisi sprangen wir aus der Bahn. Wir stiegen ans Tageslicht, hinauf zu den Ufern einer brandenden Avenue. Unmöglich zu sagen, wie viele Spuren sie hatte. Mindestens sechs. Die Wagen rasten in westliche Richtung, hupend, jaulend, sich gegenseitig überholend und beiseitedrängend. Ich hielt mein Gesicht in einen unverschämt blauen Himmel.
    »Sag mal«, begann Juliane neben mir. »War das nicht eben der Typ aus unserem Hotel?«
    »Wo?« Ich kreiselte um meine eigene Achse.
    »Der Knilch, der das Zimmer neben dir bezogen hat. Gestern hat er eingecheckt.«
    »Wo denn?« Und woher wusste Juliane, dass er im Zimmer neben mir wohnte? Hatte sie Röntgenaugen? Ihr war alles zuzutrauen.
    »Ist weg!« Juliane schnaubte. »Los, suchen wir den Journalisten. Wie heißt er noch mal?«
    »Giorgi«, antwortete ich müde und zeigte auf einen Quader aus Beton, »das muss der Fernsehsender sein. Wir suchen einen Käsestand. Mit einer Verkäuferin namens Schuscha.«
    Es gab unzählige Käsestände auf dem Straßenmarkt, außerdem Blumen, Fleisch, Blumentöpfe, Werkzeuge, Batterien, Frostschutzmittel, Obst, Gemüse und Büschel mit Kräutern, dick wie Reisig und gebunden wie Besen. Da waren Menschen, die etwas verkauften, plaudernd und debattierend, mit Zigarettenkippen zwischen den Lippen, Münzen in der Hand jonglierend,

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