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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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auf sich selbst. Sie marschierte resolut ins Klassenzimmer zurück, ging auf die Fragen nach Charles nicht ein, schickte Kick und Carl nach Hause und begann mit fester Stimme den Nachmittagsunterricht. Um Viertel vor vier fand Miss Wrigley, es sei genug und ließ die Kinder nach Hause gehen. Charles war nicht mehr zurückgekommen. Sie vermutete, daß er nach Hause gegangen war, völlig durchnäßt, wie er von der Exkursion in den Bach sein mußte. Sie ging die Hintertreppe hinunter zum Kellervorplatz, um sich zu vergewissern, daß die Hintertür abgesperrt war, und blickte über den Schulhof hinweg zum übersprudelnden Bach. Ein Kopf tauchte aus den Wirbeln des schlammigen Wassers auf. Lieber Gott, Charles! Sie riß an der Hintertür, suchte ihre Schlüssel, um sie aufzusperren, bekam den Schlüssel nicht ins Loch, hatte die Tür endlich offen und ließ ihren Schlüsselbund fallen, als sie schreiend über den Hof stürzte.
    »Charles! Charles! Komm da raus. Du holst dir den Tod. Ach, Charles!«
    Sie hatte Mühe, unter dem durchhängenden alten Stacheldraht hindurchzuschlüpfen, zerriß sich ihren Rock an mehreren Stellen. Und der Schlamm auf dem Feld schlug über ihren Schuhen zusammen. Ein Stück stromabwärts tauchte jetzt Charles’ Hand auf. Der Junge richtete sich im brusthohen Wasser auf, lehnte sich in die rasch fließende Strömung hinein und starrte Miss Wrigley an, als hätte er soeben sein eigenes Todesurteil vernommen. Der leere, verzweifelte Ausdruck auf seinem Gesicht ängstigte sie ebenso wie die Tatsache, daß er über drei Stunden im Wasser gewesen sein mußte, wenn er nicht inzwischen einmal nach Hause gegangen und dann wieder zurückgekommen war.
    Knöcheltief im Schlamm des Ufers blieb sie stehen und streckte ihren Arm aus.
    »Komm jetzt, Charles, komm heraus«, sagte sie ruhig und leise, beugte sich noch weiter über die Böschung und winkte ihm.
    Das Gesicht mit Schlamm verschmiert, das Haar verklebt und dicht an seinen Kopf geklatscht, sah er sie an. Seine Augen waren stumpf, und sein ganzer Körper zitterte in anfallartigen Zuckungen. Wieder tauchte er unter das wirbelnde Wasser.
    Sie wartete, rutschte noch ein Stück weiter die Böschung hinunter, während sie die Absätze ihrer völlig ruinierten Schuhe in den Matsch stemmte. Fünf Dollar, dachte sie, hin für diesen Jungen. Charles’ Gesicht tauchte prustend an derselben Stelle wieder auf, wo er zuvor gewesen war.
    »Charles, wenn du jetzt nicht aus dem Wasser kommst, dann hole ich dich. Meine guten Schuhe habe ich mir schon ruiniert, und dieser Rock ist das letzte gute Stück, das ich hab’, aber glaub mir, ich komme hinein, wenn du nicht sofort herauskommst.«
    Sie war völlig entgeistert, als Charles sich im hohen Wasser aufrichtete und zu weinen anfing. Sein Gesicht verzog sich wie das eines kleinen Kindes, während ihm die Tränen über die Wangen rollten und sich mit dem Schlamm des Bachs vermischten. Und immer wieder durchliefen heftige Schauder seinen Körper.
    Miss Wrigley murmelte etwas, schlüpfte aus ihren Schuhen, ließ sie einfach im Schlamm stehen, so daß es aussah, als wäre sie aus ihnen herausgezogen und zum Himmel hinaufgetragen worden, und stieg unsicher hinunter ins eisige Wasser. Unglaublich kalt wirbelte es ihr um die Beine, stieg ihr bis zu den Hüften. Dann trat sie auf einen glitschigen, schrägen Stein und fiel vornüber. Ihr Kopf tauchte unter Wasser. Prustend und nach Luft schnappend kam sie wieder hoch. Dann watete sie entschlossen tiefer ins Wasser hinein, bis sie dem Jungen so nahe war, daß sie seinen Arm mit beiden Händen umschließen konnte. Sie zog ihn mit ihrer ganzen Kraft hinter sich her, während sie gegen den schweren Sog der Strömung kämpfte, der sie beide bachabwärts ziehen wollte. Charles folgte ihr ganz fügsam jetzt, weinend und zitternd, völlig durchgefroren.
    Sie schleppte ihn die Böschung hinauf und brachte ihn ins Schulhaus, wo sie das Feuer im hinteren Ofen nachschürte, das beinahe ausgegangen war. Als es wieder kräftig brannte, legte sie Charles ihren warmen Tuchmantel um die Schultern und befahl ihm, seine nassen Sachen auszuziehen. Sie trocknete ihm das schlammige Haar mit ihrem Schal und ging in die Mädchengarderobe, in der Hoffnung, dort etwas zu finden, was sie überziehen konnte. Aber da war nichts, außer ihrem eigenen Regenmantel, den sie vor einer Woche dort hängen gelassen hatte, als es am Vormittag geregnet hatte und nachmittags plötzlich schön geworden war. Sie

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