Werwelt 01 - Der Findling
sie waren. Es sei denn, er konnte für immer den Stein behalten, den Mrs. Lanphier seinen »Glücksbringer« genannt hatte. Wenn er den stets bei sich oder in dem Haus liegen hatte, in dem er sich gerade befand, konnte er dann nicht auch so sein wie die anderen Menschen?
Auf dem hinteren Weg zum Haus der Witwe Stumway, den er am Vortag freigeschippt hatte, blieb er stehen und starrte blind in das neuerlich einsetzende Schneetreiben. Während er auf die dunklen Bäume hinter dem Haus blickte und der Schnee dichter zu fallen begann, konnte er das Bild jenes kraftvollen Geschöpfs sehen, an das er sich vom Blick in den Spiegel her erinnerte. Es war beängstigend, schrecklich, mit Zähnen wie Messer, kleinen, listigen Ohren, die eng am hinteren Teil des Kopfes mit der langen Schnauze anlagen, und mit mächtigen, runden Schultern, die ein ganzes Automobil hochhieven konnten. Er dachte an die Schöne und das Tier, an den lichtscheuen Grendel, die Bösen, die Unglücklichen. Wartete er nur auf den Helden, der ihn auslöschen sollte?
Charles wurde vorsichtig, hatte immer eine Ausrede parat, wenn Miss Wrigley ihn bat, nach der Schule noch zu bleiben, um zusätzlich etwas zu arbeiten oder über das nächste Pensum zu sprechen. Charles hatte diese Gespräche früher geliebt und es fiel ihm jetzt schwer, ihnen zu entsagen. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, wenn er an sie zurückdachte. Der Gedanke, angesichts der Verdächtigungen und der Spötteleien der anderen Jungen klein beizugeben, war ihm verhaßt, aber was war, wenn alle so etwas glaubten? Sein Verhalten den Mädchen gegenüber wurde merklich kühl, während er den älteren Jungen mehr Zurückhaltung und Unterwürfigkeit zeigte. Miss Wrigley bemerkte die Veränderung und meinte, das wären die Schmerzen des Erwachsenwerdens, meinte, er suchte den Zutritt zu den Geheimnissen der Männerwelt. Ihr wurde ganz warm bei ihrem Verständnis.
Ende März hatte man das Gefühl, als hätte der Winter ewig gedauert. Der Schnee war ihnen zur Selbstverständlichkeit geworden wie bei den Eskimos. Doch dann, in der ersten Aprilwoche, schmolz er beinahe über Nacht und war fort. In der Nacht begann es zu regnen, und ein warmer Wind aus Südwesten brachte die würzigen Düfte von wachsenden Pflanzen und warmer, feuchter Erde, die die Bauern und ihre Familien nun schon seit einer Ewigkeit von Kälte nicht mehr gerochen hatten.
Charles erwachte in der Nacht und hörte den Regen, der wie das Murmeln leiser Stimmen klang, während er aufs Dach niederrauschte. Er glitt aus dem Bett und war überrascht, wie warm es plötzlich geworden war, so warm, daß er seinen eigenen Atem nicht mehr sehen konnte. Er schob das Fenster hoch und öffnete die kleine Luftklappe des Doppelfensters. Der weiche Lufthauch, der durch die kleine Luke hereinwehte, schmolz alles, so wie die Tränen im Märchen von der Schneekönigin das Eis im Herzen des kleinen Jungen geschmolzen hatten, das ihn daran gehindert hatte, das Wahre zu sehen. Etwas, das bisher Charles’ Herz umklammert hatte, löste sich, und er prickelte plötzlich von einer ganz neuen Erregung. Es war Frühling!
Die warme Witterung würde vielleicht nicht anhalten, es würde wahrscheinlich wieder Schnee geben, sagten die Leute, doch die Düfte, die in der Luft hingen, die zurückkehrenden Vögel, die närrischen Kühe, die mit aufgestellten Schwänzen auf den Wiesen herumtobten, die Hunde, die im Schulhof tollten, die Pferde, die sich im Gras wälzten – all dies kündigte das Nahen des Frühlings an. Der Frühling kam, kam endlich, und wie in einem gefrorenen Fluß das Eis taut, so zerrissen die eisigen Bande des Winters, die Charles gefesselt hatten, und sein Herz sprang vorwärts. Er wollte stark sein, vor den Mädchen glänzen, gefährliche und närrische Heldentaten vollbringen, die sie bestaunen sollten, damit sie sehen konnten, daß er der tapferste, der stärkste, der schönste von allen war.
Doch die anderen Jungen waren natürlich von ähnlichen Gefühlen beseelt, so daß sein eigenes Verhalten völlig natürlich auf Miss Wrigley wirkte, die in der Mittagspause am hohen Fenster stand und den Jungen zusah, die wie die Affen an den gefährlichen Balsampappeln hochkletterten, um zu sehen, wer den Mut hatte, sich in die abgestorbene Gabel ganz oben hinaufzuwagen, wer verrückt genug war, vom dritten Ast herunterzuspringen auf den untersten und von dort mit Schwung zu Boden zu hüpfen. Die Mädchen standen an der Hausmauer oder hockten im
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