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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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seid ja nur eifersüchtig auf ihn, weil er euch dieses Jahr alle überholt und ihr solange gebraucht habt, um überhaupt so weit zu kommen, wie ihr jetzt seid. Paul kann noch nicht mal das große Einmaleins, und Carl stolpert über jedes Wort, das mehr als vier Buchstaben hat, und –«
    Charles packte ihn beim Kragen und zog ihn weg. Er würde sich mit diesem Gerede nur Schläge einhandeln, und wenn er auch vielleicht bereit war, sich verdreschen zu lassen, Charles war es nicht; er erinnerte sich noch zu gut an das letzte Mal.
    »Na und, das macht doch nichts«, gab Rudy grimmig zurück. »Du bleibst immer ein Krüppel.« Und als Douglas eine Bewegung machte, als wolle er sich von Charles losreißen, fügte er hinzu: »Und gestern Abend hab’ ich genau gesehen, wie du im Klo gewichst hast.«
    Da wurde Douglas rasend. Sein Kragen zerriß, als er sich Charles’ Hand entwand, um sich auf seinen Bruder zu stürzen. Rudy trat ihm ganz lässig entgegen und schlug ihn noch zweimal, einmal ins Gesicht und einmal auf den Kopf, bis Carl ihm befahl, er solle aufhören.
    Douglas schwankte mit glasigen Augen.
    »Petze, petze ging in’ Laden, wollt für’n Dreier Petze haben! Petze, petze gab es nich, Petze, petze ärgert sich«, kreischte er mit hoher Kleinkinderstimme, leierte den Reim immer wieder von neuem herunter, bis Charles ihn beim Arm nahm und mit sich zum Haus zog.
    Die Jungen auf der Brücke lachten noch immer und machten obszöne Zeichen, als Charles Douglas im Haus der Bents ablieferte und der Obhut seiner Mutter übergab. Drinnen im warmen Haus hörte er das Geschrei des jüngsten Bent, eines weiteren Jungen, der Anfang Dezember geboren war, und er lauschte dem Kindergeschrei mit einer plötzlichen Klarheit. Es war ein Kind; es würde zum Jungen heranwachsen und dann zum jungen Mann; zur Schule gehen, heiraten, Kinder haben, vielleicht berühmt werden. Das alles konnte dieses kleine Kind tun.
    Charles sagte irgend etwas zu der ärgerlichen Mrs. Bent und ging aus dem Haus, um nach Hause zu laufen. Auf dem ganzen Weg ging ihm das kleine Kind durch den Kopf, wie es geboren worden war, wie es leben würde. Er wanderte die Hofstraße entlang und ignorierte die Jungen, die immer noch auf der Brücke standen. Was sie sagten, war nicht wichtig. Doch das, was wichtig war, war nicht zu ändern. Er konnte sie verprügeln, vielleicht sogar Rudy und Paul gleichzeitig fertigmachen, aber das würde ihn selbst nicht ändern. Er fühlte den kalten, summenden Stein in seiner Tasche, das Lederband, das er durch das Loch gezogen und an seiner Jacke festgemacht hatte, damit er den Stein nie verlieren würde. Wenn er dieses Ding nicht hätte, was würde dann geschehen?
    War er, Charles Cahill, das einzige Geschöpf dieser Art auf der Welt? Oder ging es ihm wie Douglas, der, wenn er in der Dunkelheit wichste, glaubte, seine wäre die einzige Schuld auf der Welt? Waren vielleicht alle so wie er? Oder sie zeigten es nie. Vielleicht ist die ganze Welt wie ich, schoß es Charles wie in einer plötzlichen Offenbarung durch den Kopf. Doch schon im nächsten Moment wußte er, daß das nicht so war. Die berüchtigten Gangster in Chicago, wie Machine Gun Jack McGurn, der vor kurzem in einer Schießerei mit der Polizei getötet worden war, waren Mörder; die meisten Menschen aber waren keine Mörder. Tiere waren Tiere, Menschen waren Menschen. Doch was war er?
    Als er sich dem dunklen Wäldchen und dem versteckten Haus der Witwe Stumway näherte, spürte Charles wieder die Unsicherheit, das hohle Gefühl der Angst in seinem Bauch, was sich stets einstellte, wenn er daran dachte, was am Erntedankfest geschehen war. Er hatte keine Erinnerung, kein Gefühl, überhaupt gewesen zu sein, als das Tier sich irrtümlich in einen anderen verwandelt hatte. Er erinnerte sich des Dings, das da im düsteren Badezimmer der Boldhuis gestanden und seinen massigen, kraftvollen und schreckeneinflößenden Körper betrachtet hatte und dabei gespürt hatte, daß es ein Teil von ihm war. Doch da wußte er plötzlich, daß das nicht stimmte; wegen der falschen Verwandlung, an die das Tier sich erinnerte, er aber nicht. Er erkannte, daß er es verkehrt herum gesehen hatte. Das Tier war nicht ein Teil von ihm, auch wenn es ihn vor dem Tod gerettet hatte und sich bemühte, ihn vor Schaden zu bewahren. Es wollte nur überleben. Er war ein Teil des Tiers, und er würde nur so lange existieren, wie diese Macht ihn brauchte, um seine Ziele zu erreichen, gleich, welcher Art

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