Werwelt 01 - Der Findling
schlüpfte aus ihren nassen Kleidern und zog den Regenmantel an, zog ihn fest um ihren fröstelnden Körper. Als sie wieder ins Klassenzimmer kam, kauerte Charles neben dem Ofen auf dem Boden, den Mantel um seinen Körper. Seine nassen Sachen lagen auf dem Boden verstreut.
Miss Wrigley legte dem Jungen die Arme um die Schultern. Sein Körper zuckte und zitterte jetzt in regelmäßigen Wellen, und als er den Kopf hob, sah sie, daß seine Haut ganz blau war.
»Ach, Charles«, sagte sie, drückte ihn an sich und rubbelte kräftig seinen Rücken. »Was war denn so wichtig? Was hat er in den Bach geworfen, daß du dafür sogar eine Lungenentzündung riskiert hast?«
»Meinen Glücksbringer«, sagte er, doch seine Augen blickten stumpf, als nähme er ihre Anwesenheit kaum wahr, als wiederholte er nur etwas, was er zuvor schon stundenlang vor sich hingemurmelt hatte.
Sie rubbelte ihn weiter, obwohl ihr selbst kalt war.
»Warst du die ganze Zeit im Bach?«
Doch er gab ihr keine Antworten, wiederholte nur immer die gleichen Worte. Sie überlegte, wie sie ihn nach Hause bringen sollte, und was sie selbst tun sollte, nur mit einem Regenmantel bekleidet, das Haar klebrig und naß. Bis zum Haus der Witwe Stumway war es nicht weit, nur ungefähr zweihundert Meter. Sie dachte eben daran, zum Bach zurückzulaufen, um ihre Schuhe zu holen, als sie hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Den Arm noch immer um Charles’ Schultern, drehte sie sich um. Paul Holton stand unter der Tür und betrachtete sie mit einem merkwürdigen Ausdruck. Sie folgte der Richtung seines Blicks und sah, daß er auf ihre nackten Beine starrte. Als sie sich niedergekniet hatte, hatte sich der Regenmantel ein wenig geöffnet. Sie zog den Mantel über ihre Beine und sagte so bestimmt und gebieterisch, wie es ihr möglich war: »Paul, Charles hat stundenlang im kalten Bach gestanden. Er wird schwer krank werden, wenn wir ihn nicht sofort nach Hause bringen und ins warme Bett packen können. Lauf doch zu den Peaussiers und sag ihnen, daß ich hier Schwierigkeiten habe und Hilfe brauche. Frag, ob jemand da ist, der den Wagen fahren kann, damit wir den Jungen so rasch wie möglich nach Hause bringen können.«
Durchdringend blickte sie Paul an, der dastand, als hätte er sie nicht gehört.
»Paul!« schrie sie wütend. »Hast du mich verstanden?«
»Ja, Madame. Zu den Peaussiers laufen und ein Auto holen. Ja, Madame.«
Er drehte sich um und prallte gegen den Türpfosten, als er hinausrennen wollte.
Er lag im Bett, doch es verwandelte sich immer in den Schneesturm. Ihm war so kalt, und dann verbrannte er, verbrannte in einem Wald, der in Flammen stand, wo alle Bäume aussahen wie riesige Kerzen, die von oben bis unten brannten, und er mußte zwischen ihnen hindurch. Und dann hielt er den Glücksbringer, doch er war groß, so groß, daß er ihn nicht tragen konnte, und dauernd wollte er auf ihn niederfallen, so groß war er, und er mußte sich dagegen stemmen und drücken und stoßen, damit das Riesending nicht auf ihn hinunterfiel. Der Traum dauerte so lange, daß er vergaß, daß es überhaupt eine andere Welt gab, daß er ein Mensch war, der in einer Welt lebte, die nicht innerhalb von Sekunden von heiß zu kalt wechselte. Es gab nur die Träume, und jetzt wurde es immer heißer und niemals wieder kalt, immer nur heißer, und das Atmen wurde ihm so schwer, daß ihm schien, als wäre die Luft wie Rauch oder wie Brühe, die ein- und auszuatmen er sich krampfhaft bemühen mußte. Dann war er auf einmal unter Wasser und atmete das Wasser. Anfangs hatte er Todesangst, daß er ertrinken würde, doch dann merkte er, daß er das Wasser atmete und es ihm nichts tat.
»Ich kann nichts sagen, Mrs. Stumway«, erklärte der dicke, kleine Mann im Tweedjackett. »Das geht nicht so wie im Kino, wo der Doktor aus dem Zimmer kommt und versichert, daß alles wieder gut wird. Das Fieber steigt nicht mehr, glaube ich, aber ich kann nicht versprechen, daß er sich jetzt schnell erholen wird.« Er schüttelte den Kopf, während er sein Stethoskop wieder in das kleine Köfferchen packte. »Im Augenblick können wir nicht viel mehr tun. Ein Fall für das Krankenhaus ist es nicht, da sein Zustand stabil zu sein scheint und er nicht mehr so verschleimt ist.«
Bleich und schmal in ihrem alten braunen Kleid, stand Mrs. Stumway unter der Tür zu Charles’ Zimmer und blickte auf das stille Gesicht des Jungen.
»Er ist ja kein Angehöriger von mir, Dr. Mervin«, sagte sie,
Weitere Kostenlose Bücher