Werwelt 01 - Der Findling
Persönlichkeit jeden Tag an Kraft gewinnt. Immer schwieriger wird es, ihm Vernunft beibringen zu wollen, immer schwieriger, ihm dann meinen Willen aufzuzwingen, wenn er nicht will, daß ich mich zurückverwandle, um mir draußen auf den dunklen Feldern die Nachtluft um die Nase wehen zu lassen. Ich frage mich, ob ich ein Ungeheuer geschaffen habe, und bei dem Gedanken muß ich lächeln, lächle direkt in die angstvollen Augen des Kaninchens, das ich eben gefangen habe und gleich verspeisen werde. Aufregend war die Jagd auf das Tier nicht, es ist kein reines Wildkaninchen, sondern so eine Kreuzung mit zahmen Stallkarnickeln, die die Leute hier in der Stadt für ihren Sonntagsbraten züchten. Es ist sehr groß und braun und dick, und unter dem Hals hat es einen wabbeligen Fettlappen. Mit den flinken Bürschchen, die ich immer bei Martin in den Hecken und an den Bachufern gefangen habe, hat es gar nichts gemein. Aber es schmeckt sehr gut, beinahe süß, ähnlich wie Hühnchen oder Lamm. Auch ich verändere mich, werde heikler, stelle ich fest, während ich Fetzen von Haut und Pelz ausspeie. Ich finde keinen Genuß mehr daran, kleine Tiere in einem einzigen Happen zu verschlingen, sondern habe angefangen, sie auseinanderzunehmen, um mir nur die guten Stücke zu Gemüte zu führen. Den Rest lasse ich einfach verkommen. Vielleicht werde auch ich langsam ein zivilisiertes Wesen und fresse bald nur noch nahrhaftes Hundefutter in drei köstlichen Geschmacksrichtungen aus der Dose.
Doch die warmen Sommernächte behalten für mich ihren ungebrochenen, alle Dinge berauschenden Zauber, der mich immer von neuem umfängt, wenn ich draußen vor der Stadt mit leichtem Schritt über die Weiden und Stoppelfelder wandere. Meine Sinne erspüren die Kühe, die drüben an der Ecke einer Weide schlafend unter dem dunklen Schirm eines Ahornbaums liegen, und die Bisamratten, die an den Mündern ihrer unterirdischen Baue in den Flußufern auf Elritzen lauern; verstohlen schleichen die Katzen durch die Nacht, und ihre Augen glühen auf wie Laternen, wenn ein Automobil auf der Landstraße vorüberfährt. An jedem Graben, unter jedem Büschel Gras zirpen die Grillen und quaken die Frösche in scharfen, kantigen Tönen. Die Erde liegt weich und gut unter meinen Füßen, während ich, in dem Gefühl, eins zu sein mit der Natur, lautlos durch die Dunkelheit streiche und die Gerüche und Düfte all der kriechenden, springenden, jagenden Nachtgeschöpfe einatme, deren Hunger in den sommerlichen Nächten so leicht gestillt ist. Das Tiergefühl wohliger Fülle und Sättigung nehme ich auf, das den eisigen Winter ebenso vergessen macht wie die stumpfe Erstarrung der Sinne, die sich in der dunklen, von Schnee zugeschütteten Höhle einstellt, während der Magen langsam schrumpft, und die Kälte Herz und Hirn lahmlegt und wo nicht einmal mehr Träume kommen.
Ich blicke hinauf zu der schmalen Sichel des Mondes, deren spärliches Licht in der Dunkelheit kaum Schatten wirft. Ein neues, fremdes Gefühl ist in mir geboren worden, das schon seit einiger Zeit ständig wächst und mich mit einer seltsamen Unrast erfüllt. Manchmal wird es sogar wach, wenn ich einer Füchsin auf der Spur bin und einen Hauch ihrer Ausdünstung auffange. In Robert regt es sich, wenn er seine geliebte Vaire betrachtet. In mir ist es wie ein Verlangen, zu töten und genußvoll zu fressen, aber ohne das Tier, das ich töte und fresse, zu verletzen. Es ist ein ganz paradoxes Gefühl, das ich nie zuvor gekannt habe, und das ich nur Roberts wachsender persönlicher Eigenständigkeit zuschreiben kann; mir scheint, daß da etwas, das in den Erlebnisbereich des Menschen gehört, in mein eigenes Leben hineinsickert. Es ist daher etwas, mit dem ich mich auseinandersetzen muß, denn es scheint jetzt, daß ich mich endgültig auf ein Zusammenleben mit den Menschen eingelassen habe. Sie sind seltsame, schreckliche, leidende Wesen, doch jetzt, wo Robert geboren worden ist, bin ich einer von ihnen. Dieses Gefühl kann ausgekostet werden wie jede andere Empfindung, und daher lasse ich es mir gefallen, auch wenn es irritierend ist. Jedes Gefühl, selbst der Schmerz, muß erfahren werden und ist besser, als überhaupt kein Gefühl.
5
Willie Duchamps hütete sich, den Garten der Woodsons zu betreten. Er war sowohl von Vaire als auch von Walter bereits mehrmals wegen seiner sinnlosen und teilweise grausamen Streiche kräftig ausgeschimpft worden. Er hatte Katzen an den Schwänzen zusammengebunden,
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