Werwelt 01 - Der Findling
Frühstück machte.« Schluchzend, aber voller Zorn bricht sie ab und sagt dann, noch immer weinend: »Vaire, sag mir, hast du es gesehen? Sag es mir. Hast du es gesehen, wie es da unter der Hintertür stand? Mit seinen großen unnatürlichen Augen und den riesigen Fängen?«
»Ja, Mutter«, antwortet Vaire sehr leise.
»Du hast gute Augen, Victoria. Du hast es gesehen.« Ich höre es ihren lallenden Worten an, daß sie betrunken ist. Noch immer schluchzend sagt sie es wieder, lauter jetzt. »Du hast es gesehen.«
Darauf folgt eine Pause. Dann scheint sie sich plötzlich voller Ärger und Bitterkeit gegen die jüngeren Leute zu wenden.
»Was hatte es an?«
»Wie, Mutter?« fragt Vaire, Angst in der Stimme.
Und Walter schaltet sich mit der gleichen Frage ein. »Was es anhatte?« sagt er ratlos.
»Es hatte Roberts Nachthemd an!« schreit Tante Cat schrill, und bei den Worten sträubt sich mir plötzlich in dieser heißen Augustnacht das Fell, als fege ein eisiger Wind aus nördlichen Wäldern über mich hinweg.
»O mein Gott! Ach, Mutter«, ruft Vaire entsetzt.
»Ich hole Doktor Fleishmann«, verkündet Walter. »Setz dich hin, Mutter.« Walter sagt es streng und bestimmt.
»Hast du Angst davor, es auszusprechen, Victoria?« fragte Mrs. Nordmeyer. »Hast du Angst davor, das auszusprechen, was dieser gräßliche Rustum sagte, daß es ein Ungeheuer aus der Hölle war?« Sie schreit jetzt ganz laut. »Aber genau das war es. Ja, genau das war es. Ein Ungeheuer aus der Hölle, und es hat meinen Mann umgebracht.«
Ich stehe jetzt beim Fenster und höre mir alles an. Walter läßt unten an der Auffahrt den Wagen an; Mrs. Nordmeyer ist offenbar zu Boden gestürzt. Vaire holt etwas aus der Küche. Ich schicke meine Sinne aus: Anne schläft. Unten auf der Straße, wo die Scheinwerfer von Walters Wagen davongleiten, ist kein Mensch. An der Ecke, wo der Schein der Straßenlampe durch das Laub der Ahornbäume abgeschirmt wird, schwenken die beiden Lichtstrahlen ab. Niemand kommt die Straße entlang.
»Mutter, Walter holt den Arzt. Leg dir das unter den Kopf. Und hier ist ein kaltes Tuch für dein Gesicht.«
Die Stimme der älteren Frau ist so leise, daß ihre Tochter Mühe hat, sie zu hören. »Was kann es nur sein, Vaire?« flüstert sie. »Was kann es sein?«
Sie wälzt ihren Kopf auf dem Kissen hin und her. Ich spüre beinahe die Glut ihrer Augen, die zur Decke gerichtet sind und Löcher in den Boden zu brennen scheinen, auf dem ich kauere. Sie beginnt wieder zu flüstern.
»Es ist da oben, Vaire. Da oben bei Anne, da oben in deinem Haus. Es lebt mit euch unter eurem Dach, dieses teuflische Ding, dieses Ungeheuer aus dem Feuer der Hölle.«
»Mutter, bitte! Ich bin völlig außer mir.« Jetzt weint auch Vaire. »Du kannst doch so etwas nicht über ein kleines Kind sagen, das nicht älter ist als Anne. So etwas kann nicht sein, Mutter.« Sie weint jetzt ganz offen.
»Was will es?« fährt die ältere Frau flüsternd fort. Es klingt so gespenstisch, daß mein Fell sich sträubt. Sie macht sogar mir Angst.
»Mutter, bitte, hör auf«, jammert Vaire. »Du machst mir Angst.«
Ich warte darauf, daß Vaire die Treppe hinaufläuft, aber sie kommt nicht. Sie scheint hin und her gerissen zu sein zwischen ihrer Mutter und ihrem Kind, und die Angst bewegt sie, unten zu bleiben, bis ihr Mann kommt. Keine klaren Worte kommen mehr aus dem Mund der älteren Frau, nur lallendes Gemurmel, während ihr die Sinne schwinden.
Einige Minuten später kommt der Wagen mit dem Arzt zurück. Männlich robuste Kraft und Entschiedenheit vertreiben die wabernden Schatten der Angst, die uns alle eingehüllt hatten. Als viel später jemand heraufkommt, um nach Robert zu sehen, liegt er ruhig schlafend in seinem Bett, einen feinen Schweißfilm auf der Stirn von der Hitze der Augustnacht, das Nachthemd hochgeschoben bis zum Bauch.
Robert ist mir jetzt ein Rätsel. Er weiß um die Gefühle abergläubischer Angst, die er bei Tante Cat auslöst, und er spürt die häufig nur notdürftig verhohlene Nervosität seiner geliebten Vaire. Wirklich fühlt er sich nur noch in der Gesellschaft Annes und anderer Kinder, die keinerlei bewußte oder unbewußte Ängste bewegt, in ihm ein Monstrum zu sehen. Doch er will sich nicht von der Familie trennen, und es widerstrebt mir, ihn zum Fortgehen zu zwingen, obwohl ich sicher bin, daß ich das fertigbrächte, wenn es notwendig wäre, um zu überleben.
Befremdlich zu spüren, wie er als eigene
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