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Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Stallman
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überall in der Gegend in aller Munde bin, wäre das riskant. Vaire hat mich zweimal in meiner eigenen Gestalt gesehen, obwohl der eine kurze Augenblick in der Kirche wahrscheinlich mehr wie eine Halluzination war, und sie sich wahrscheinlich nicht mehr bewußt daran erinnert.
    Dann und wann pflegte sie ganz beiläufig auf das seltsame Tier zu sprechen zu kommen, nach dem Frühstück etwa, wenn Anne und Robert das Geschirr zum Spültisch trugen, oder draußen im Garten, wenn sie alle drei Tomaten pflückten, oder abends, wenn die Kinder sich auszogen, um zu Bett zu gehen. Sie pflegte dann laute Überlegungen darüber anzustellen, wie das Tier wohl so plötzlich ins Haus gekommen wäre, und beantwortete ihre eigene Frage damit, daß sie sagte, es hätte sich vielleicht in der Nacht hereingeschlichen und irgendwo versteckt, oder es wäre vielleicht durch die Hintertür hereingesprungen und hätte so den Schuß ausgelöst, mit dem Gus ihren Vater getötet hatte. Und was wohl aus dem Tier geworden sei, pflegte sie sich dann laut zu fragen, während Anne und Robert auf die Frage warteten, von der sie wußten, daß sie kommen würde.
    »Armer, kleiner Robert. Du warst wahrscheinlich viel zu verschreckt, um dich daran erinnern zu können, wo das Tier herkam, nicht wahr?«
    »Ja, ich hatte wirklich schreckliche Angst«, antwortete Robert dann, während Anne ihm einen neugierigen Blick zuwarf.
    Sie sah ihn jetzt mit neuem Respekt: Er war von einem wahnsinnigen Gorilla verschleppt worden und mit knapper Not mit dem Leben – und Großpapa Nordmeyers Mundharmonika – davongekommen. Die letzte Tatsache bereitete Anne Kopfzerbrechen und gab auch einigen anderen Familienmitgliedern zu denken. Wie merkwürdig, daß Robert die in Fetzen seines Nachthemds eingewickelte Mundharmonika in den Händen gehalten hatte, als Vaire ihn in jener Nacht am Sarg überrascht hatte!
    Walter zeigte sich Vaire gegenüber recht streng und unnachgiebig, wenn sie das Thema abends, nachdem sie die Kinder ins Bett gepackt hatte, aufs Tapet brachte. Seiner klaren und nüchternen Meinung zufolge gab es ein solches geheimnisvolles Untier nicht. Das Vieh war ein verwilderter Hund, der sich über Nacht im Haus versteckt hatte. Das Krachen des Schusses hatte ihn erschreckt, und er hatte einfach blind um sich gebissen. Robert war vor Angst einfach außer sich gewesen und war davongelaufen.
    Der ruhige Blick der Augen in dem frischen, offenen Gesicht schien Vaire beinahe zu überzeugen, solange er sprach. Alles schien ganz einleuchtend und normal, wenn Walter ruhig und gelassen im dämmrigen Wohnzimmer ihres Hauses saß und ihr direkt ins Gesicht blickte und sagte: »Das ist doch nichts als Massenhysterie, Vaire. Es ist genau so, wie wenn die Leute sich einbilden, den indischen Entfesselungsakt gesehen zu haben. Man braucht ihnen nur einzureden, daß etwas Übernatürliches oder Grauenhaftes geschehen ist, und sofort machen sie sich daran, es nach Kräften auszuschmücken, bis es die unglaublichsten Dimensionen annimmt.«
    »Aber ein Hund könnte Robert doch nicht weggeschleppt haben.«
    »Natürlich nicht, Liebes«, pflegte Walter mit unerschütterlicher Gewißheit zu antworten. »Der arme kleine Bursche ist fortgelaufen. Der Hund hat ihn wahrscheinlich herumgestoßen, und da ist er auf- und davongelaufen und hat sich im Stall versteckt. Denn da hat er sich doch versteckt, nicht wahr, sagte er das nicht?«
    »Ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er volle drei Tage lang da oben saß, während all diese Leute den ganzen Hof absuchten. Ich bin überzeugt, daß ein paar von den Männern oben auf dem Heuboden nachgesehen haben, wo er sich angeblich versteckt gehalten hat.«
    Vaire widerstrebte es aus tiefster Seele, Walter in irgendeiner Weise zu widersprechen. Er war ein so guter Mensch. Aber für sie war es wirklich undenkbar, daß der kleine Junge sich zweieinhalb Tage lang nackt auf dem Heuboden versteckt gehalten hatte, während es auf dem Hof von Polizeibeamten, Suchhunden und Reportern gewimmelt hatte.
    Dieses Argument reizte Walter jedesmal von neuem, und er pflegte dann bedächtig seine Pfeife zu stopfen. Das Pfeiferauchen hatte er erst vor kurzem angefangen, um sein Image zu unterstützen. Das Stopfen und Anzünden wollte mit Bedacht getan sein, und verlieh ihm einen Zug kluger Nachdenklichkeit. Manchmal allerdings, wenn er sprach, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, schnappte sie hoch, wie an einem Scharnier, und dann mußte er hastig und

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