Werwelt 01 - Der Findling
ich eine Bemerkung über jenen verhängnisvollen Morgen vor anderthalb Monaten auf und spitze augenblicklich meine Ohren.
»Dieser Prokoff ist zu dreißig Jahren verurteilt worden«, bemerkt Walter, die Pfeife im Mund.
»Noch ein halbes Kind«, sagt Vaire, und es hört sich an, als wäre sie mit ihren Gedanken woanders.
»Und dieser Rustum wird nie wieder laufen können, steht hier. Er muß in Zukunft eine Schiene tragen wie der Präsident«, fährt Walter fort und lacht leise.
Vaire gibt keine Antwort, deshalb fährt er zu sprechen fort.
»Der alte Mann ist letzte Woche gestorben, schreiben sie, und der große Bursche, dieser Hamner, hatte ganz hier in der Nähe eine Familie, wie sie festgestellt haben, eine Frau und vier Kinder, drüben bei Grand Valley.«
»Walter.« Vaires Stimme klingt, als wollte sie gleich zu weinen anfangen.
»Was denn? Ach, verzeih mir, Liebes.« Walter hatte jetzt die Pfeife aus dem Mund genommen und spricht wieder einigermaßen normal. »Es ist wirklich dumm von mir. Ich weiß gar nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Gar nichts wahrscheinlich.«
»Ach, das ist es nicht. Ich mach mir Sorgen um Mutter.«
»Wegen des Trinkens?«
»Ja, das auch. Aber hauptsächlich wegen dieses merkwürdigen Menschen, den sie dauernd in Grand Rapids besucht. Ich hab’ Angst, daß sie da irgendwie betrogen wird oder womöglich den Hof verliert oder so etwas. Es wimmelt ja überall von Schwindlern und Betrügern. Du hast doch den Artikel neulich gelesen, über diesen Kerl in Chicago, der alle Leute um ihr Geld gebracht hat.«
»Sam Insull?«
»Ja, den meine ich. Und ich hab’ Angst, daß dieser Mensch auch so einer ist.«
»Wer ist es denn überhaupt? Ich höre das erste Mal, daß sie jemanden konsultiert.« Walters Stimme klingt etwas gekränkt. »Ich hatte immer den Eindruck, daß sie jemanden braucht, bei dem sie Rat findet. Ich könnte ihr da helfen. In meiner Branche bin ich schließlich –«
»So einer ist das nicht, Walter. Er ist – äh – er ist, ich glaube, er ist so eine Art …«
»Nun, was denn, um Himmels willen, Vaire?« Walter scheint ungeduldig.
»Ein Medium.«
»Ein was? Ein Medium?« Jetzt lacht er.
»Es ist kein Scherz.« Vaires Stimme hat eine gefährliche Schärfe.
»Aber, Liebes, ich mache keine Scherze. Erklär mir doch, was du meinst.«
»Ich meine, der Mann ist ein Medium. Ein spiritistisches Medium. Einer, der mit Toten spricht.«
»Nein!«
»Doch. Aber sie ist nicht verrückt. Das darfst du nicht glauben. Sie hat Vater sehr geliebt, und es kam alles so, so unerwartet. Es schien alles so sinnlos und ungerecht. Sie ist blind vor Kummer und völlig aus der Fassung, aber verrückt ist sie nicht, glaub das ja nicht, Walter. Sie ist meine Mutter, und sie ist die beste Frau auf der Welt! und –«
Vaire weint jetzt und Walter hat knisternd seine Zeitung zusammengefaltet und legt sie neben seinen Stuhl. Ich höre ein Kratzen, denn er schabt seine Pfeife aus.
»Ich habe doch gar nicht gesagt, daß sie verrückt ist, Liebes. Ich habe allerdings den Verdacht, daß sie einem Betrüger in die Hände geraten ist. Es gibt keine Geister, mit denen die Menschen Kontakt aufnehmen können, das ist alles Erfindung. Natürlich tut ihr das gut und macht ihr den Übergang leichter.«
»Walter!« Vaire ist aufgesprungen. Ich höre, wie gepreßt ihre Stimme ist. »Gott verdammich, Walter! Gott verdammich!«
»Vaire! Was, um alles in der Welt!« Jetzt springt auch er auf.
»Übergang wozu? Für sie gibt es keinen Übergang. Ihr Leben ist kaputt, Walter, zerbrochen! Begreifst du denn nicht, wie schrecklich das alles sie verändert hat?«
»Moment mal«, beginnt Walter.
»Nein!« Vaire läuft unter mir hin und her. »Ich möchte nur eines von dir wissen: Willst du mir dabei helfen, sie von diesem Menschen loszubringen, den ich für einen Betrüger halte? Das ist alles, was ich wissen will.« Nie zuvor habe ich Vaire, die sonst so ruhig und sanft ist, mit solcher Heftigkeit sprechen hören. Walter ist offensichtlich bestürzt. Stille.
»Ja, natürlich, will ich das, mein Liebes. Natürlich werde ich dir helfen.«
Wieder ist es still unter mir, während sie einander umarmen. Dann setzen sich beide wieder.
»Sie geht also zu einem Medium, um mit deinem Vater Verbindung aufzunehmen?«
»Ach, so richtig weiß ich das nicht. Sie sucht ihn jedenfalls zweimal in der Woche auf und hat mir erzählt, daß es ihr hinterher immer viel besser geht und daß er ihr alles so zeigen wird,
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