Werwelt 01 - Der Findling
die Familie gequält und ebenfalls gewartet hatten, worauf, das wußte er nicht. Aber sie hatten gewartet. Er richtete den Blick auf das Gesicht des schwarzhaarigen Mannes, dessen Lächeln unverändert und dessen Oberlippe beinahe unbewegt blieb, wenn er sprach. Auch dieser Mann schien ihm gefährlich, aber nicht auf die gleiche Weise; die Szene wirkte geheimnisvoll auf ihn, faszinierend wie ein Abenteuer. Robert lächelte beinahe, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, und er spürte das vertraute Prickeln der Erregung auf seiner Haut. Niemand konnte ihm etwas tun, wenn Vaire und Tante Cat und Walter dabei waren, es würde also schon nichts passieren.
»Schön, Robert«, sagte Mr. Sangrom und streckte die Arme aus, so daß seine beiden langen, weißen Hände direkt vor Robert zu liegen kamen. »Ich möchte gern, daß du deine Hände auf die meinen legst, Robert«, fuhr er fort. »Weißt du, ich kann nämlich die magnetischen Ströme in deinem Körper spüren, und ich kann so deine Antworten besser verstehen.«
Robert legte seine Hände auf die langen, weißen fleischigen Hände, die vor ihm lagen wie Gipsabgüsse. Sie fühlten sich weich und zerknittert und kühl an, wie der Rücken einer Kröte. Er hörte, wie Walter auf dem Stuhl in der Ecke des Raums leise hüstelte, und blickte zur Fensterbank, wo er vor den Scheiben des Erkerfensters, auf dem noch grau das Zwielicht lag, Vaires Silhouette sehen konnte. Sie saß seitlich, die Hände im Schoß, und es gab Robert Mut, sie dort sitzen zu sehen. Dann wanderte sein Blick zu Tante Cat, doch sie war im Schatten, er sah nur eine hochgewachsene kantige Gestalt, einem Scherenschnitt ähnlich, die am anderen Ende des Tisches saß.
»So, Robert«, begann Mr. Sangrom mit sehr ruhiger, gleichmäßiger Stimme, die ausschließlich zu Robert zu sprechen schien. »Du fühlst dich sehr wohl hier im Kreis deiner Lieben, und du bist hier sicher und geborgen, und es wird langsam spät, so daß es mich nicht wundern würde, wenn du hier im verdunkelten Eßzimmer ein bißchen schläfrig werden würdest.«
Robert spürte, daß er ein bißchen schläfrig war, obwohl seine Nase noch immer schmerzte, und er sich um Anne sorgte. Und er fühlte sich ja auch wirklich geborgen hier, er hatte keine Angst vor dem Mann mit dem geschniegelten Haar, und deshalb hörte er sich das, was der Mann sagte, ruhig an. Es schien ihn immer schläfriger zu machen, aber es war nicht so, daß er richtig einschlief. Es war mehr so, als dächte er sich selbst in einen Traum hinein, als ließe er die Worte einen Traum spinnen, da das einfacher war, und dann träumte er wirklich, aber er lauschte immer noch den Worten des Mannes, der ihn bei den Händen zu nehmen und ihn in der Dunkelheit irgendwo hinzuführen schien.
»Du erinnerst dich an jenen Morgen, als es regnete, nicht wahr? Du erinnerst dich daran, wie du an jenem Morgen die Treppe herunterkamst, und der Mann dich packte und dich zwang, dich an den Tisch zu setzen, nicht wahr? Du erinnerst dich, daß böse Männer im Haus waren, die deinem Onkel Martin und Tante Cat Schlimmes antun wollten. Etwas später kam auch Tante Vaire, und auch ihr wollten die Männer Böses. An das alles erinnerst du dich, nicht wahr? Und du mochtest diese schlimmen Männer nicht.«
Robert, der stumm zuhörte, hatte das Gefühl, wieder in die Küche des Bauernhauses geführt zu werden, und ihm war, als sähe er die Szene wieder vor sich, wie er von dem jungen Mann mit dem Hühnerkopf gepackt wurde, wie er sich an den Tisch setzte. Jetzt war auch Vaire da, hielt seine Hand, und der Landstreicher mit dem zerfetzten Jackett sagte Sachen, bei denen sie rot wurde. Er spürte, wie das Blut in seinem Körper brodelte. Er wünschte, es käme etwas sehr Großes und Starkes und Böses, um Vaire zu helfen, weil der Mann ihr sonst etwas Böses tun würde. Es kam auch, aber er hatte Angst davor. Es kam, und er wollte es nicht mehr zurückhalten. Doch wenn es kam, dann würde er nicht mehr bleiben können, und Martin würde getötet werden. Robert kämpfte eine Zeitlang gegen das Mächtige an, während er zusah, wie der rothaarige Mann Vaire weh tat. Alles schien plötzlich zum Stillstand zu kommen, während er spürte, wie sein Wünschen in zwei Richtungen auseinandergerissen wurde. Er wollte nicht zulassen, daß der böse Mann Vaire etwas tat. Aber er konnte das Mächtige nicht herauskommen lassen, weil dann Onkel Martin erschossen werden würde. Deshalb mußte alles stillstehen.
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