Werwelt 02 - Der Gefangene
sehen kann er auch nicht, dieser völlig verbogene Mensch. Ihr fiel ein, daß ihre Mutter immer behauptet hatte, Leute, die schielten, könnten um die Ecken sehen. Heute trug Ludwig seine grüne Uniform mit der komischen schrägen Mütze und dem Hakenkreuz auf dem Ärmel. Er bildet sich wahrscheinlich ein, daß er ungeheuer imposant aussieht, dachte sie, während sie zusah, wie er sich hochaufgerichtet vor seiner kleinen Truppe aufpflanzte. Sie hielten sich alle sehr stramm, Kinn hoch, Bauch eingezogen, Brust herausgewölbt. Bill stand am hintersten Ende der Reihe.
»Rührt euch!« rief Ludwig laut, und nur zwei der Männer rührten sich. Die Hände in die Hüften gestemmt stand er da und brüllte nochmals: »Rührt euch!«
Nachdem sie dieser Aufforderung endlich Folge geleistet hatten, machte sich Ludwig daran, ihnen eine feierliche Rede zu halten. Da er etwas oberhalb der Männer am Hang stand, überragte er seine Leute samt und sonders.
»Liebe Landsleute und ehemalige Deutschamerikaner«, begann er und unterbrach sich kurz, um mit einem füchsischen Lächeln auf seine Männer zu blicken, »wir sind heute hier zusammengekommen, um unsere Bindung an das Vaterland und die Ideale der Nationalsozialistischen Bewegung in der Welt neuerlich zu bestätigen. Ich sagte ›ehemalige‹ Deutschamerikaner, weil wir keine Deutschamerikaner mehr sind. Wir sind jetzt Mitglieder des Amerika-Deutschen-Volksbunds. Wir sind, um es genau zu sagen, amerikanische Deutsche, Mitglieder der nordischen Rasse, die immer und überall im Herzen Deutsche sind.«
Er legte eine Pause ein, doch Applaus war offensichtlich nicht angebracht. Niemand rührte sich.
»Wie ihr wißt, wird in einer Woche im Camp Siegfried auf Long Island im Staate New York die größte Versammlung unserer Geschichte abgehalten werden. Ich bin überzeugt, euch allen liegt ebenso viel daran wie mir, eure Solidarität – euer Deutschtum – mit unseren Kameraden im Osten zu bekräftigen und unserem Führer in Amerika, dem Bundesleiter Kuhn, der persönlich zugegen sein wird, eure Dienste zur Verfügung zu stellen. Wenn einige unter euch sich wegen ihrer mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache Kopfzerbrechen machen, so kann ich euch versichern, daß der Volksbund genau das ist, was sein Name besagt, eine Organisation für das Volk, und niemand wird schief angesehen, wenn er zu Beginn seines Studiums der deutschen Muttersprache mit der Sprache noch ein wenig auf Kriegsfuß steht. Wir sind alle Deutsche, vereint in unserem Kampf gegen das Weltjudentum, den Kommunismus und die Rassenverseuchung.«
Wieder legte er eine Pause ein und hob ein dünnes Büchlein hoch.
»Ihr alle werdet dieses kleine Buch kaufen wollen, von dem ich eine Anzahl von Exemplaren mitgebracht habe. Es handelt sich um die Protokolle der Ältesten von Zion‹, den wahren Bericht über die jüdische Verschwörung, den gesamten Reichtum Amerikas und der Welt zu horten und zu beherrschen. Es sagt uns die Wahrheit über den schleimigen Polypen des Weltjudentums, der mit seinen Fangarmen in jeden Teil unseres Lebens eingedrungen ist, um uns langsam in einer weltweiten Wirtschaftsdepression zu erdrosseln, die schon jetzt dem Kommunismus den Boden bereitet hat, der nur darauf wartet, den tödlichen Schlag zu führen und uns unser Land zu entreißen. Es ist das Ziel des Nationalsozialismus in der ganzen Welt, diese Geheimorganisation der Juden zu vernichten und mit ihr ihre kommunistischen Verbündeten, die ihre Arbeiter betrügen, indem sie ihnen weismachen, daß sie die Fabriken besitzen werden. Ihnen geht es allein darum, das an sich zu reißen, was ihr habt, und wenn wir ihren Lügen glauben, werden wir am Ende alle Sklaven in unserem eigenen Land sein.«
Seine Stimme wurde jetzt merklich lauter und schriller.
»An dem Tag, an dem wir uns der Führung unseres großen Führers in Deutschland, Adolf Hitler, anvertrauen, an dem Tag, an dem er uns zeigt, wie wir dieses Problem, das uns der unbarmherzigen Umklammerung des Weltjudentums ausliefert, lösen können, an dem Tag werden wir wissen, was zu tun ist. Wir werden bereit sein! Unsere Kader, unser Ordnungsdienst, unsere Jugendgruppen, die gesamte Mitgliedschaft des Volksbunds wird sich erheben und diese Sklaventreiber vernichten, die uns unsere Arbeit genommen haben, die die Reinheit unserer Rasse mit ihren hakennasigen, dunkelhäutigen Schmarotzern verseucht haben, die uns, indem sie unsere Zeitungen, unsere Film- und Funkindustrie beherrschten,
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