Werwelt 02 - Der Gefangene
machst das Essen?« fragte Bill und blieb vor der untersten Stufe stehen, beinahe genau dort, wo das Eichhörnchen gesessen hatte.
»Weil es noch nicht Zeit zum Mittagessen ist, Wilhelm«, versetzte Renee, ihre Augen noch immer auf das Eichhörnchen gerichtet.
Sie spürte, daß Bill eine Bewegung machte, und als sie hinblickte, hatte er das Gewehr an der Schulter und visierte das Eichhörnchen an, das am Baumstamm hing und zu ihm hinunterspähte. Sie schrie auf, und im selben Moment löste sich mit ohrenbetäubendem Krachen der Schuß aus der Waffe. Ein Stück Rinde wurde aus dem Baum gerissen, und das Eichhörnchen verschwand. Die Hände auf den Mund gepreßt, stand Renee da und starrte auf Bill, als dieser das Gewehr senkte. Hinter ihr lachte Mina plötzlich auf. Renee drehte sich um und sah, daß sie mit dem Arm zum Baum hinwies.
»Du hast es verfehlt, Papa«, rief sie und sprang dabei vergnügt auf und nieder.
Als hätte er einen Feind gesichtet, der sich aus dem Grün der Zweige auf ihn stürzen wollte, riß Bill das Gewehr wieder hoch, spannte den Hahn und feuerte nochmals, und dann noch einmal, und dann noch einmal. Es regnete Äste und Nadeln und Rinde, und der Wachtposten am Auto lachte und schlug sich jedesmal, wenn Bill feuerte, krachend auf den Schenkel.
»Na los schon, hol’s endlich runter«, brüllte er wiehernd.
Als die Munition verschossen war, senkte sich wieder Stille über die Lichtung. Wenig später begannen die Vögel wieder zu zwitschern. Der Baum hatte hier und dort ein paar Wunden. Bill stieß den Kolben des Gewehrs in den Boden und grinste den Wachtposten etwas dümmlich an.
»So, das wird ihm wohl den Spaß gründlich verdorben haben«, sagte er.
»Nein, hat es nicht«, quietschte Mina und wies hüpfend zur Höhe des Baumes hinauf, wo das Eichhörnchen hockte, als wäre nichts geschehen.
»Na, jetzt wissen wir wenigstens, wen wir gar nicht erst loszuschicken brauchen, wenn wir mal Wild essen wollen«, bemerkte der Wachtposten, während er sich eine neue Zigarette anzündete.
»Sie heißen Tom, stimmt’s?« fragte Bill und sein Lächeln war wie weggeblasen.
»Stimmt, Schnellfeuertommy, wenn Sie’s genau wissen wollen, ha ha ha«, antwortete der Mann und blies Bill eine Rauchwolke ins Gesicht.
»Ach, und Sie würden das bestimmt besser machen«, versetzte Bill höhnisch.
Tom sagte gar nichts, hob statt dessen das schlankläufige Gewehr, und noch ehe er überhaupt Zeit gehabt hatte zu zielen, wie es schien, krachte der Schuß. Das Eichhörnchen stürzte von seinem hohen Ast, schlug im Fall auf mehrere andere Äste auf und landete schließlich mit einem sanften Aufprall auf dem von Fichtennadeln übersäten Boden. Es rührte sich nicht.
»Genau«, sagte Tom, senkte die Waffe und schob seinen Hut nach Gary-Cooper-Manier auf den Hinterkopf.
Renee drehte sich abrupt um. Bitterkeit lag auf ihrem Mund, Haß in ihrer Seele. Sie streckte die Hand nach Mina aus, um sie mit sich in die Hütte zu ziehen, doch das kleine Mädchen stürzte an ihr vorbei und rannte die Stufen hinunter zu der Stelle, wo das tote Eichhörnchen lag. Neben dem Tier kauerte Mina nieder und streckte die Hand aus, um den schlaffen kleinen Körper zu streicheln. Dann stand sie auf, sah den Wächter an und sagte scherzhaft, wie es schien: »Dafür sage ich der großen Miezekatze, daß sie Sie fressen soll.« Dann lief sie die Stufen hinauf und verschwand mit ihrer Mutter in der Hütte.
Bill war ihnen hineingefolgt und blieb jetzt hinter Renee stehen, als diese sich anschickte, das Mittagessen zu machen, und Kaffeewasser aufsetzte. Mehrmals kam er so dicht an sie heran, daß sie ihm ausweichen mußte, weil er ihr im Weg war, und schließlich stellte er sich direkt vor sie hin, so daß sie nicht mehr an ihm vorbeikonnte. Sie blieb stehen und sah ihn an. Traurig und gereizt fragte sie sich, was er jetzt wieder wollte.
»Wir fahren morgen früh wieder ab«, sagte er. Seine Arme hingen schlaff herab, er machte keine Anstalten, sie zu berühren. »Du mußt mir versprechen, daß du bei mir bleibst.«
»Du bist ja wahnsinnig«, entgegnete sie und versuchte, an ihm vorbeizukommen.
Er hob einen Arm, und sie blieb stehen, weil sie Angst hatte, daß er sie wieder schlagen würde.
»Ich brauche dich, Renee«, sagte er leise. »Ich will dich wiederhaben.«
Sie traute ihren Ohren nicht. Aus harten Augen blickte sie in Bills Gesicht und sah dort die Veränderungen, die das vergangene Jahr bewirkt hatte; die
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