Werwelt 02 - Der Gefangene
die Unendlichkeit dehnt.
»Er ist tot?«
»Ja. Es treibt dahin, ohne sich zu rühren.«
»Nein. Ich sehe einen Gedanken.«
»Es ist nur der letzte, das letzte Aufflackern, das wir sehen können. Es ist tot.«
»Der Mensch tötete es wie ein Tier.«
»Ja. Die Menschen töten alles. Es war dem Mann lästig.«
»Nur wenige sind noch übrig.«
»Es gibt noch andere?«
»Sie würden nicht helfen.«
»Es liegt nicht in ihrer Natur.«
»Alleinsein ist sicher sein.«
Ich versank. Die Funken schwebten aufwärts. Über eine lange finstere Zeit lag ich auf dem Grund des Meeres, ohne zu atmen, nur dem langsamen Zischen meines letzten Gedankens lauschend, der versickerte wie ein feines Fädchen, das von der immer dünner werdenden Spule läuft. Als mein Geist dann wahrnahm, wie das letzte flatternde Ende des Fädchens entglitt und verschwand, fühlte ich mich leicht und leer und stieg, ohne es zu wollen, wieder hinauf in die feurige See, tauchte erneut in den Schmerz ein, und die Finsternis erhellte sich meinen Sinnen. Ich hörte, wie die Denkspule wieder zu surren begann, und es klang wie der Unterton eines verzweifelten Ringens um einen Gedanken. Und jetzt höre ich mich selbst aufschreien vor Schmerz, durchschneide den Schrei mit meinen Gedanken und lasse ihn verstummen. Ich spüre meinen Körper. Die Schmerzen können aus ihrem Meer brennender Qual herausgelöst werden. Der Geist wird den Schmerz abtrennen und für den Körper sorgen, so gut er kann. Der Schmerz drängt mich, meine Gestalt zu wechseln, diesem Leib zu entrinnen. Der Geist weiß, daß er nicht entrinnen kann, daß eine Verwandlung in menschliche Gestalt den augenblicklichen Tod bedeuten würde, denn meine Verletzungen sind so schwer, daß ein Menschenwesen sie nicht überleben könnte.
Ich lebe. Ich werde leben. Ich bewege den einen Vorderlauf, der unter mir eingeklemmt ist, so daß ich mich von dem durchdringenden Schmerz in meiner Brust herabwälzen kann. Der Lauf ist angeschwollen und pulsiert, doch er bewegt sich, wenn ich es ihm befehle. Ich wälze mich weg von dem Schmerz im Brustkorb. Ein Knochen in einem meiner Hinterbeine knirscht. Er ist gebrochen. Unmittelbar über meinem Kopf ist etwas Hartes. Ein umgestürzter Baum. Ich habe mich in eine Grube unter einem umgestürzten Baum eingescharrt. Das ist ein sicherer Ort. Ich glaube, jetzt kommt die Morgendämmerung, und ich weiß nicht, welche Morgendämmerung es ist, wieviele Tage schon gekommen und gegangen sind, seit ich hier liege. Kann ich mein anderes Hinterbein spüren? Ist überhaupt ein zweites Bein da? Ja, da ist es, empfindungslos. Vielleicht nicht gebrochen. Auch der andere Vorderlauf fühlt sich an wie betäubt, dumpfen Schmerz spüre ich dort, die Krallen wollen sich nicht bewegen – gebrochen. Das Rückgrat ist eine einzige lange Straße des Schmerzes, eine zerschmetterte Säule, der letzte, alles zerberstende Sturz einer Marmorsäule, das Geographiebuch, das Charles so geliebt hat – ich kann nicht an andere Dinge denken, denn der Schmerz überwältigt mich. Ich muß jetzt fort.
Die funkelnden Augen sind wieder da. Wie lange sind sie schon hinter mir her, seit ich durch die Furchen frischgepflügter Felder tobte. Mit mir läuft ein Junge durch die Kälte, dem riesigen gelben Mond entgegen, der gerade erst am Horizont aufgegangen ist. Der Mond zieht ihn an, hilft ihm, um Hilfe zu rufen, und bringt ihm diese Hilfe in der Not. Der Talisman bezieht seine Kraft vom Mond. Es waren keine Indianer. Es war kein Wehr, sah nur so ähnlich aus. Dies ist dein Totem, der Mond, der Bär, der Gestaltwandler. Die Wesen mit den funkelnden Augen jagen einen mächtigen Bären über die ungepflügten Felder, die jahrhundertelang nicht gepflügt werden sollen, doch sie fangen ihn nicht. Lachend läuft er vor ihnen her, weil er genau weiß, wo sie in der Finsternis sind. Jetzt sind es mehr geworden, sie umringen ihn, die Wahl muß getroffen werden. Dies eine muß ich dich lehren und dich dann verlassen. Dein Bedürfnis schafft dein Selbst. Und Alleinsein ist sicher sein. Doch du mußt die Verbindung suchen. Wir laufen noch immer, während die funkelnden Augen in der Finsternis hinter uns sind. Auf den Feldern steht jetzt das Getreide, und der Mond hängt über uns wie ein rundes Fenster zum All, durch das nur wir hindurchsehen können, während wir immer weiter laufen, immer auf der Suche, und die blitzenden Augen im Mondlicht verblassen. Ich werde dich lehren, sagt das gewaltige Tier, während
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