Werwelt 02 - Der Gefangene
ist es her, daß es geregnet hat? Tage? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß die Pfütze in der Nähe ist. Ich schleppe meinen schweren Körper aus der Grube und spüre die Starrheit der Muskeln, die gegen einander ziehen. Der Schmerz ist so groß, daß ich am liebsten innehalten, einfach zusammengerollt in der Höhle unter dem umgestürzten Baum liegen bleiben möchte. Mit dem Vorderlauf, der nicht gebrochen ist, ziehe ich mich hoch; der, der am stärksten schmerzt, ist am leichtesten verletzt, glaube ich. Endlich bin ich aus der Grube heraus und liege im braunen Laub des letzten Jahres. Die Nacht ist dunkel und mondlos, und das Wäldchen ist beruhigend leer. Seit vielen Stunden habe ich keinen Zug und keine Autos mehr gehört. Vielleicht ist es gegen Morgen. Die Pfütze ist nahe. Ich schleppe mich zu ihr hin, wobei ich auf meiner rechten Seite über den Boden rutsche, die Bewegungen ähnlich denen eines Schwimmers beim Seitenschwimmen.
Das Wasser hat einen köstlichen Duft. Mein Mund zieht sich zusammen in erwartungsvoller Gier. Da ist es, ein dunkler Schimmer in meiner Wahrnehmung. Ich robbe weiter und spüre, wie der Boden unter mir glitschig und schlammig wird. Am liebsten würde ich den Schlamm auflecken, doch ich zwinge mich zu warten. Jetzt ist das Wasser unter meiner rechten Pfote, und jetzt hängt mein Kopf direkt darüber. Ich senke meine Schnauze ins Wasser und schlürfe es in langen, tiefen Zügen, die mich mit solchem Wohlbehagen erfüllen, daß ich beim Trinken kaum noch den Schmerz spüre. Nur nicht zuviel. Nur ganz ruhig liegen und langsam trinken.
Das Gesicht im schlammigen Wasser, liegt das große, dumme Tier da, ein Bein unter sich angezogen, das andere im Schmerz ausgestreckt. Die gebrochenen Rippen unter dem narbendurchsetzten Fleisch beginnen zu heilen. Der Rücken, der Bauch und der Kopf sind ein einziger Haufen schmerzhafter Schwellungen und schwärender Wunden. Aus der Ferne kommt das Pfeifen eines Zuges. Bald wird der Tag anbrechen, denn ich weiß, daß der Zug kurz vor Morgengrauen vorüberfährt, und dann werden auch die Autos kommen. Meistens sind es nur ein oder zwei, obwohl ich manchmal am Rand des kleinen Wäldchens auch Stimmen gehört habe. Es waren Kinderstimmen, die keine Gefahr bedeuteten, deshalb habe ich ihnen kaum Beachtung geschenkt.
Doch während ich mich jetzt zu meiner Höhle unter dem umgestürzten Baum zurückschleppe, beginne ich zu überlegen, wo ich eigentlich bin, wie lange es noch dauern wird, bis ich mir einen besseren Unterschlupf suchen kann, was ich als nächstes tun werde. Gedanken, die über diese Fragen hinausgehen, will ich vorläufig nicht zulassen. Der Tod ist noch immer sehr nahe, und ich muß praktisch jeden Gedanken und all meine Willenskraft auf die Heilung meines Körpers konzentrieren. Ich muß ständig auf der Hut sein, daß nicht irgendwo das Fleisch abstirbt, daß nicht irgendwo Schwellungen und Eiterherde entstehen, wo sie nicht entstehen sollten, daß die vielen Wunden und Risse sich nicht entzünden oder über Nacht brandig werden. Das Wetter ist gut, geht es mir durch den Kopf, während ich zur Höhle zurückkrieche. Nur einmal hat es geregnet, und nachts ist es warm. Am Rand der Grube muß ich mich abplagen wie ein Blöder, um hinunterzukommen, ohne mir weitere Verletzungen zuzuziehen. Am Ende habe ich überhaupt keine Kraft mehr, so daß ich mich einfach mit eingezogenem Kopf schlaff hinunterrollen lasse. Wieder in meiner Höhle, bin ich so ausgepumpt, daß ich meinen Willen loslassen und schlafen muß. Das letzte, was ich wahrnehme, ist das Zwitschern der erwachenden Vögel, der Geruch der feuchten Erde, die sich unter der Sonne erwärmt, und in weiter Ferne das Pfeifen eines Zugs.
Die erregte Stimme schrillt mir schon lange in den Ohren. Sie hat sich durch einen Raum gewoben, indem sie ein Chor von Grillen und Fröschen war. Jetzt aber, wo ich langsam aus dem Schlaf emportreibe, kann ich sie ohne den restlichen Chor hören. Es ist eine dünne, hohe Stimme, die etwas Metallisches hat.
»Es ist ein K. o., Leute, ein K o. in der zwölften Runde. Joe Louis, der braune Bomber, ist soeben von Max Schmeling k.o.-geschlagen worden. Das Publikum hier im Madison Square Garden tobt. Sie sollten die Menschen hier sehen, liebe Zuhörer. Sie sind völlig außer Rand und Band.«
Ich kehre ganz in die bewußte Welt zurück, und der Schmerz überschwemmt mich wieder, nicht ganz so brennend wie bisher, an anderen Stellen jedoch, die ich zuvor gar
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