Werwelt 02 - Der Gefangene
Lebendiges, als der letzte Eisenbahnwaggon mit schrillem Kreischen vorüberrollt. Die Geräusche des Zuges, der nun langsamer fährt, sich aber immer noch entfernt, werden schwächer, und drüben, auf der anderen Seite der Geleise, regt sich etwas in der Finsternis. Ich muß wach bleiben, lebendig. Dieses unsichtbare Ding in der Dunkelheit birgt Gefahr. Mein Geist will es nicht halten, meine Augen verfinstern sich immer wieder, in meinen Ohren ist ein ständiges Dröhnen, mein Raumsinn ist angefüllt mit Gestalten und Formen, die gar nicht da sein können. Ich versuche, mich auf die andere Seite zu wälzen. Etwas Scharfes sticht mich nahe beim Herzen ins Fleisch. Ich drehe mich anders herum, um den Druck zu vermindern, und spüre, wie die Knochen eines Vorderlaufs sich knirschend aneinanderreihen. Ich halte meinen Kopf still und konzentriere mich darauf zu sehen. Ich bin schwer verletzt, vielleicht sogar tödlich. Das unsichtbare Ding ist ein Schatten auf der Straße jenseits des Bahndamms. Es steht da und späht die Geleise hinunter, wo der Zug jetzt angehalten hat und Menschen aus den geöffneten Türen stürzen, während weit vorn, wo die Lokomotive ist, dichte Dampfwolken in den Himmel steigen. Verstecken. Auf einen Vorderlauf und einen Hinterlauf gestützt schleppe ich mich tiefer ins Gras, während ich mit dem gebrochenen Vorderlauf die klaffende Wunde in meinem Bauch zusammenhalte. Mein Raumsinn schlägt plötzlich aus: Vor mir sind Bäume, ein Wald. Ich krieche weiter, während ich nach rückwärts spüre, nach der Gestalt, die noch immer auf der dunklen Straße steht und den Zug beobachtet.
In den Bäumen fühle ich mich sicherer, doch mein Körper, bisher in Empfindungslosigkeit erstarrt, rührt sich jetzt an vielen Stellen. Schmerzen schwellen in meinem Rücken, in meinem Magen, meinen Vorderläufen, einem Hinterlauf, und an meinem Herzen spüre ich die scharfen Spitzen der gebrochenen Rippen. Ich bin jetzt auf allen vieren und ziehe einen Hinterlauf nach. Immer wieder schüttele ich meinen Kopf, um wenigstens einen meiner Sinne von Spinnweben zu befreien, damit ich einen sicheren Unterschlupf finden kann. Doch meine Sinne wollen nicht klar werden. Immer wieder versinken sie im Nichts. Der Körper muß es allein schaffen. Ich sehe eine dunkle Stelle. Leere. Ich fühle, daß sich die lebendige Gestalt hinter mir jetzt in Bewegung gesetzt hat und sich langsam entfernt. Sie weiß nicht, wo ich bin. Leere. Mühsam scharre ich eine Grube unter einem umgestürzten Baumstamm. Ich spüre den Schmerz und höre ein leises Flüstern. Leere. Ich bin unter dem Baumstamm. Leere. Die Schmerzen sind zu stark. Wer ist Renee? Ich rufe einen Namen. Leere.
2
Ich treibe auf einem endlosen Wasser dahin und versinke in einem Feuer der Qualen, das mich verbrennt, sobald ich mich bewege. Ein dunkler Schmerz ist da, der meine Brust durchbohrt, als ich sinke, und das Feuer frißt heiß an meinem ganzen Körper. Meine Sinne entgleiten mir in diesem finsteren Meer der Qual, und ich kann nicht länger schwimmen. Ich lasse mich wieder hinabsinken, so daß der scharfe Dolch des Schmerzes mein Herz durchbohrt wie ein zugespitzter Pfahl einen vom Rumpf getrennten Kopf. Ich kann mich nicht halten. Ich lasse los, und der spitze Pfahl stößt in mich hinein, daß der Schmerz in einem Schwall in mein Bewußtsein schießt und dort auflodert wie eine Stichflamme. Und dann ist es ruhig. Ich treibe in dem dunklen Meer, aber ich fühle den Schmerz nicht mehr, oder besser gesagt, ich fühle ihn, doch er macht mir nichts mehr aus. Lichter, Funken leuchten im Nebel auf, und die Strömung trägt mich ihnen entgegen. Es sind Augen, viele Augenpaare, die wie auf Felsriffen mitten im Ozean ruhen, und hinter all diesen Augenpaaren, die mich beobachten, während ich dahintreibe und versinke, rühren sich Gedanken. Ich höre ihre Gedanken, während sie miteinander über mich nachsinnen. Sie stellen Mutmaßungen darüber an, ob ich schon tot bin. Es kümmert sie nicht, ihre Fragen entspringen nur der Neugier, jener Eigenschaft, die sie niemals ablegen. Ich würde mit ihnen sprechen, aber ich kann meinen Mund nicht bewegen, und mein Geist ist nur ein Häufchen Asche, ausgebrannt von der letzten heißen Flamme des Schmerzes. Ich kann nur zuhören, ihre Gedanken mit den kläglichen Überresten meines Raumsinns aufnehmen, jenem abenteuerlustigsten meiner Sinne, der jetzt nur noch ein Empfänger fader Gedanken dieser funkelnden Augen im Nebel ist, der sich in
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