Werwelt 02 - Der Gefangene
werden von selbst aus meinem Körper austreten. Jetzt bin ich an der Bruchstelle. Es ist ein glatter Bruch, den einzurichten keiner außerordentlichen Anstrengung bedarf. Ich habe den Lauf offenbar sehr vorsichtig nachgezogen. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr. Ich halte inne, um den Schmerz, der den Rest meines Körpers durchpulst, zurückzudrängen, und mache mich daran, die notwendigen Muskelstränge zu isolieren, in diesem Fall die großen Streckmuskeln. Einen nach dem anderen setze ich sie vorsichtig unter eine sich stetig steigernde Spannung, bis sie sich im Moment der Überlastung aufbäumen und im Krampf erstarren. Der Schmerz im Augenblick des Krampfes ist im Bein stärker, doch immer noch gering im Vergleich zu den anderen Qualen. Jetzt der nächste, der große Oberschenkelmuskel, der am sichersten halten wird. Er dehnt sich langsam, um den Knochen aufzunehmen, zieht sich unter der Einwirkung meines Willens allmählich zusammen, und schließt glatt und geschmeidig die Bruchstelle, um mit seiner Kraft die zerbrechlichen gesplitterten Enden zusammen zu halten, und erstarrt jetzt. Ah, es ist eine Wohltat, diesen Schmerz zu fühlen und zu wissen, daß der Knochen fest und sicher gestützt ist.
Kaum ziehe ich mich aus dem inneren Sensorium zurück, da richten sich meine Sinne wieder nach außen, und die quälende Trockenheit, die mir wie brennendes Holz im Mund und in der Kehle liegt, erhebt sich über den Schmerz. Wenn jetzt nur das Sprunggelenk eine Zeitlang hält. Ich hebe den Vorderlauf an und drücke die Pfote auf meinen Magen. Es wird schon eine Weile gehen. Später kann ich mir das genauer ansehen. Erst brauche ich Wasser.
Ich schicke meinen Raumsinn aus. Bäume, ein paar schlafende Vögel, trübes Licht, Zwielicht vielleicht, das zwischen den Blättern hindurchsickert. Etwas Lebendiges huscht über den Boden unweit der Stelle, wo die Bäume aufhören. Kaninchen. Komm, Häschen. Komm zu mir. Ich möchte dich haben, kleines Häschen. Ich spüre, wie eines der kleinen Tiere, das, welches mir am nächsten ist, zu der Grube hoppelt, wo ich zusammengekrümmt unter dem umgestürzten Baum liege. Wasser kann ich nirgends in der Nähe finden. Doch so zerrissen mein Bewußtsein jetzt ist, bin ich doch immer noch imstande, dieses kleine Geschöpf an mich heran zu ziehen. Das Kaninchen erscheint in meinem Blickfeld. Aus leeren, dummen Augen starrt es in die Höhle, in der ich liege. Komm, kleines Tier, komm den Hang herunter unter meine Schnauze. Du mußt! befehle ich, als das Brennen in meiner Kehle und meinem Mund mich überwältigt. Das Kaninchen wagt sich einen Schritt vor und rutscht zu mir in die Grube hinunter. Zitternd vor Furcht liegt es an meiner blutverkrusteten Brust. Ich befehle ihm, näher zu kommen, direkt unter meine Schnauze, denn ich kann mich nicht rühren. Das Tier muß praktisch seinen Körper in mein Maul schieben. Da schlage ich im Reflex meine Zähne in sein Genick. Ich schmecke das warme Blut, das meine Kehle hinunterfließt, und das Kaninchen stößt seinen letzten Schrei aus. Ich zerreiße es mit meinen scharfen Zähnen, schlinge es hinunter, schlucke das Fleisch, noch ehe ich’s richtig gekaut habe. Die Brocken bleiben mir im Halse stecken und ich würge sie wieder heraus. Mir wird klar, daß ich langsam fressen muß, wenn ich mich nicht selbst ersticken will. In dieser gekrümmten Lage nämlich kann ich nicht richtig schlucken. Ich mache also schön vorsichtig, kaue gründlich, schlucke das kostbare Blut, lasse das Fleisch in kleinen Stücken über meine Zunge gleiten. Und dann habe ich es geschafft und bin erschöpft von meinem kärglichen Mahl. Ich möchte noch mehr, aber die Anstrengung ist zu groß. Ich lasse mich fallen, und das Bewußtsein erlischt wie Feuer, das in einen dunklen See stürzt.
Tage und Nächte vergehen. Nein, wenn ich meine Augen öffne, ist es hell, zu anderen Zeiten ist es dunkel; mein Raumsinn bringt mir Nachricht aus dem kleinen Wäldchen rund um mich herum. Ich befehle meine Mahlzeiten herbei, Kaninchen und Eichhörnchen, einmal sogar ein Huhn, das sich in den Wald verlaufen hat. Ich übe meine Glieder, bis es mir gelingt, wenigstens ein Stück aus der Höhle herauszukriechen. Das eine Hinterbein ziehe ich dabei nach, während ich einen Vorderlauf fest auf die Brust gedrückt halte. Jetzt reichen mir die Säfte der Tiere nicht mehr. Ich muß Wasser haben, und nicht allzuweit entfernt ist eine große Pfütze, in der sich Regenwasser gesammelt hat. Wie lange
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