Werwelt 02 - Der Gefangene
er nicht da ist, sehe ich dich hier draußen.« Sie kichert und tippt mir mit ihrem kleinen Zeigefinger auf die Nase. »Hast du meinen Stiefvater verschluckt, du große schlimme Miezekatze?«
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen.
Das Kind ist wunderbar.
Nein, so ist das nicht, Mina, antworte ich. Deinem Papa geht es gut, und er hat geschlafen, bis du herausgekommen bist.
»Der ist jetzt noch nicht mein Papa«, sagt sie nachdenklich, während sie mir mit der Hand über meinen langen, schrägen Rücken streicht. Ich sehe, wie sie unter dem dünnen Baumwollnachthemd fröstelt.
»Ich möchte auf dir reiten.«
Wie bitte?
»Laß mich auf deinem Rücken reiten. Nur einmal durch den Garten und zu den Bäumen.« Und schon versucht sie, auf meinen Rücken zu klettern. »Ach, komm doch, du mußt jetzt mein Pferd sein, sonst erzähl’ ich Mami alles.«
Ich finde die Situation komisch. Leise lachend stelle ich mich auf und gehe in die Knie wie ein Kamel, damit sie sich auf meinen Rücken schwingen kann. Sie ist federleicht und scheint sich auf meinem Rücken völlig zu Hause zu fühlen, während ich mich aufmache, unter den dunklen Bäumen hindurchzutrotten, hinaus auf die mondhelle Wiese und wieder zurück in die Schwärze unter den Balsampappeln und den Oleanderbäumen. Sie hockt bequem auf meinen Schultern, die kleinen Fäuste zu beiden Seiten meines Halses in mein Fell gegraben. Mich überkommt ein merkwürdiges Hochgefühl, während sie so auf mir reitet, und ich spüre, wie ihr Entzücken in mich hineinschmilzt, dieses Entzücken, das man verspürt, wenn man im Traum auf dem Tiger oder Bären oder was sonst dieses große goldene Tier sein mag, im Mondlicht dahinreitet. Nun aber, als das Tier in einen leichten Galopp fällt, beugt sie sich vor. Ihre nackten Beine schließen sich fest um meinen Brustkorb, während ich in schrägem Lauf die Böschung zum Graben hinaufgaloppiere und über das Wasser hinwegspringe, in dem, wie eine Vision aus dem Märchenland, flüchtig unser Spiegelbild aufblitzt und wieder verschwindet. Sie jauchzt vor Vergnügen, als es sie, obwohl sie sich mit Händen und Füßen festklammert, beinahe von meinem Rücken hebt. Ihr Atem streift mein Ohr, während wir über die mondbeschienenen Felder kantern und Spuren hinterlassen, die den Bauern am nächsten Morgen Kopfzerbrechen bereiten werden. Wir überspringen einen niedrigen Zaun, und jetzt scheint mir der Körper mit dem meinen verschmolzen, ihr Entzücken scheint mir ein Teil meines eigenen zu sein. Sie hat teil an meinem Leben, an diesem vollen Leben, von dem ich glaubte, es könnte nie jemand teilen. Mit keinem meiner Sinne fühle ich, daß dies die kleine Mina ist, Barrys Stieftochter, Renees Kind, vielmehr habe ich die Empfindung, daß hier ein zweites Bewußtsein an meinem Leben teil hat, und die alte Regel, die dritte, ›allein sein ist sicher sein‹, verblaßt. Ich genieße den Rausch dieses Augenblicks überschäumender Wonne, und das Bewußtsein davon, daß mein Leben, das während all der Zeit meines Erdendaseins so einsam und geheim war, nun von einem anderen Leben geteilt wird, erfüllt mich mit einer pulsierenden Freude, die die ganze grenzenlose Nacht zum Schwingen bringt.
Ein wenig erhitzt halten wir schließlich an der Hintertür unter dem Efeu an, der eine Seite des alten, aus Luftziegeln erbauten Hauses überrankt. Ich komme mir vor wie ein kleiner Verschwörer, wie ein Kind, als wäre ich wieder Robert, wenn ich auch jetzt ein weit umfassenderes Glück verspüre, als er es je kennenlernen konnte. Mina streichelt mir noch einmal über das Fell und umarmt mich so fest, daß es mir fast den Hals abquetscht.
»Mmm. Du solltest dir mal die Zähne putzen«, flüstert sie mir ins rechte Ohr.
Also, du weißt, daß du keinem Menschen von mir erzählen darfst, ermahne ich sie so ernsthaft, wie mir das möglich ist. Wenn du etwas verrätst, und sei es auch nur deiner Mami, können wir nie mehr im Mondenschein ausreifen und zusammen spielen, weil ich dann für immer fort muß.
»Oh, das weiß ich, du brauchst gar nicht so erwachsen zu tun. Ich weiß das alles ganz genau. Ich sage Mami bestimmt nichts.« Sie gähnt.
Jetzt geh hinein, und marsch ins Bett, Mina, sage ich, von Barry bedrängt, der hellwach ist und heraus will.
Sobald sie auf dem Weg zum vertrauten Geruch der Küche ist, ziehe ich mich zu einem gebündelten Punkt zusammen und sage den Namen. Ich verwandle mich.
Barry vergewisserte sich, daß Mina sich wieder
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