Werwelt 02 - Der Gefangene
ergreifen mich wie heiße Flammen aus einem geöffneten Ofen. Ihre Worte sind wie ein Hauch, doch das Gefühl ist so stark, daß sich mir die Haare sträuben würden, wäre ich mehr als ein leerer Körper, der darauf eingestellt ist, ihre Stimme aufzufangen.
»Bleib bei deiner Mutter«, sage ich, mich ganz ruhig haltend. »Ich kann euch nur finden, wenn du mir hilfst, Mina. Sag mir, als ihr von zu Hause fortgefahren seid, seid ihr da durch die Berge gefahren oder am Fluß entlang oder durch die Wüste?«
»Wir sind ins Gebirge gefahren und die Straßen hatten lauter Kurven, und Papa ist so wild gefahren, daß Mami im Auto brechen mußte.«
Sie mußten also nach Osten gefahren sein, durch den Canyon.
»Seid ihr durch das ganze Gebirge hindurch gefahren und dann wieder auf ebene Straßen gekommen?«
»Wir sind die ganze Zeit immer weiter durch die Berge gefahren, und dann hab’ ich Bruno verloren, und dann bin ich eingeschlafen. Da, wo wir jetzt sind, ist lauter Wald mit hohen Bäumen, genau wie bei unserem Picknick.«
»Ist es bei Tag heiß oder kühl?«
»Es ist ziemlich kühl, und nachts ist es kalt. Wie jetzt. Mir ist jetzt kalt. Mami und ich dürfen nur einmal am Tag draußen spielen, und heute hat der dicke Mann auf uns geschossen, wie ich den Berg runtergelaufen bin.«
Ihre Stimme schwindet, nur das Feuer heißen Zorns bleibt in meinem Geist zurück. Ich warte, doch es bleibt still.
»Mina? Sag mir mehr, Mina!«
Lange Zeit lausche ich in die Nacht hinein. Nichts. Sie ist fort, und ich sehe, daß der Mond hinter den Vulkan gesunken ist. Eine ganze Weile bleibe ich noch in der kühlen Dunkelheit sitzen und versuche, mit Hilfe von Barrys Ortskenntnis herauszubekommen, wo sie sein könnten. Wenn Mina nicht eine ganz schlechte Beobachterin ist, dann sind sie durch den Tijeras Canyon gefahren; aber ging es nach Osten, in Richtung Texas, oder sind sie irgendwo nach Norden oder Süden abgebogen? Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf die Beobachtungen einer frühreifen Siebenjährigen zu verlassen, die auf halbem Weg eingeschlafen ist. Es wäre auch möglich, daß sie sich irgendwo auf der Ostseite der Berge befinden.
Ich übergebe das Problem an Barrys Gedächtnis, damit er es parat hat, wenn er erwacht, und streiche wieder durch den Garten in der Hoffnung, etwas Neues aufzuspüren. Doch seit der Entführung sind mehrere Tage vergangen, und die Spuren sind alle kalt. Ich kehre um und schnuppere nach dem verwelkenden Geruch von Minas Hand am Stamm der Balsampappel, wo sie das Briefchen versteckt hatte. Ihr Geruch tröstet mich eine Weile, und dann steigt eine fürchterliche Wut gegen meinen Feind in mir auf, und ich muß lange durch die Dunkelheit laufen, um mich zu beruhigen. Ich ertappe mich dabei, daß ich drauf und dran bin, einen Hund zu reißen, den ich unten auf dem ausgetrockneten Grund des Flusses gestellt habe, und ich halte ein, begnüge mich damit, ihm einen Prankenschlag zu versetzen, der ihn aufheulen läßt, ihm jedoch nicht das Leben raubt. Eine Stunde lang irre ich in der mondlosen Einsamkeit der Sandhügel umher, ehe ich klein beigebe und wieder in Barrys Bett krieche.
»Frank, hier spricht Barry. Sag mal, hast du vielleicht eine Karte, ich meine, eine wirklich gute Karte von den Osthängen der Sandias und Manzanos?«
»Mensch, das sind doch Tausende von Quadratmeilen, Junge«, erwiderte Frank mit schlaftrunkener Stimme. Es war sechs Uhr dreißig am Montagmorgen. »So was hab’ ich nicht. Eine Straßenkarte wäre vielleicht nicht schlecht, aber in dem Gebiet gibt es nicht viele Autostraßen. Wenn man in die Gegend will, fährt man erst die fünfundachtzig und biegt dann irgendwo ab, wie zum Beispiel wenn man nach Mountainaire will.«
Er murmelte vor sich hin, als überlegte er laut, und Barry, der wußte, daß er erst einmal wach werden mußte, ließ ihn in Ruhe.
»Gibt es da nicht irgendwelche detaillierten Karten vom Landesvermessungsamt oder so was?« fragte Barry.
»Hm, laß mich mal überlegen. Tom Browning könnte das wissen. Er geht viel auf die Jagd. Oder nein, wart mal einen Augenblick, Barry. Solche Karten gibt es bei der US-Forstbehörde.«
»Natürlich, klar. Okay, vielen Dank, Frank, die Tankstellen kannst du im übrigen vergessen. Ich hab’ heute nacht eine Idee gehabt, und der werd’ ich jetzt mal nachgehen.«
»Du hast einen neuen Anhaltspunkt?«
»Hm, so könnte man’s nennen. Aber was Handfestes ist es nicht. Die Schwachköpfe bei der Polizei würden
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