Wesen der Nacht
über die Sonne gelegt. Fahles Zwielicht breitete sich über dem Land aus und machte es mir unmöglich, die Zeit zu schätzen. Die Zeit, die Cale noch blieb, ehe der Mond aufging. Es war noch hell, aber das hatte nichts zu sagen, denn um diese Jahreszeit ging die Sonne in diesem Teil des Landes erst nach zehn unter. Die Dunkelheit kam noch später. Aber wann ging der Mond auf?
Sie verfrachteten uns auf den Rücksitz eines Geländewagens und legten uns die Sicherheitsgurte an, was uns den letzten Rest von Bewegungsfreiheit nahm. Der Grauhaarige und der Mann, der mit dem Whiskyglas am Fenster gestanden hatte, stiegen zu uns. Derek und der Kerl aus dem Supermarkt nahmen den anderen Geländewagen. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Student und Marissa fehlten– und mit ihnen das dritte Fahrzeug.
Ich versuchte, einen Blick auf Derek zu erhaschen, doch er hielt den Kopf im einsetzenden Regen gesenkt, sodass ich kaum etwas von seinem Gesicht zu sehen bekam, ehe er im Wagen verschwand.
Sobald der Grauhaarige den Motor anließ und losfuhr, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Straße, auf der Suche nach Cale. Wie lange war es her, dass ich zuletzt mit ihm gesprochen hatte? Lange genug, entschied ich. Er müsste längst hier sein.
Cale, wo bist du?, sandte ich meine Gedanken aus.
Als die Antwort ausblieb, bekam ich es mit der Angst zu tun. Was, wenn der Mond bereits aufgegangen war und ich ihn lediglich durch die Wolken nicht sehen konnte? Was, wenn sie Cale längst geholt hatten– wenn er längst tot war?
Ich hatte mir verboten darüber nachzudenken, was sie mit ihm tun würden, doch in diesem Augenblick, in dem Stille in meinem Geist herrschte, wo seine Stimme hätte sein sollen, konnte ich die Gedanken nicht länger beiseiteschieben. Cale würde sterben. Sie würden ihn umbringen. Nicht etwa für einen nicht ausgeführten Auftrag, sondern dafür, dass er ihn nicht in der gegebenen Zeit erfüllt hatte. Und ich würde keine Gelegenheit bekommen, ihn noch einmal zu sehen. Ihn zu berühren. Ihm zu sagen, dass ich verstand, warum er getan hatte, was er getan hatte. Dass ich ihm verzieh. Sie hatten ihm mit dem Tod gedroht und trotzdem hatte er letzte Nacht, als er die Gelegenheit gehabt hätte, sich selbst zu retten, nichts unternommen. Er würde sein Leben geben, um mir und meiner Familie nicht zu schaden.
Ich wünschte, ich könnte dich noch einmal sehen.
Das wirst du, Prinzessin. Versprochen.
Seine Stimme durchdrang meine finsteren Gedanken so unvermittelt, dass es mir nur mit Mühe gelang, einen erleichterten Aufschrei zu unterdrücken. Wo bist du?
Ich wurde aufgehalten. Aber ich bin bald da.
Ich sagte ihm, dass wir das Haus verlassen hatten. Niemand hatte ein Wort darüber verloren, wo sie uns hinbringen wollten, doch es gab nur einen Ort, der infrage kam. Komm zum Tor, Cale.
Sie brachten uns tatsächlich zum Tor. Der fehlende Geländewagen stand am Ende des Weges. Wir hielten dahinter. Der Grauhaarige stieg aus, öffnete meine Tür und löste den Sicherheitsgurt. Als ich keine Anstalten machte, auszusteigen, packte er mich unsanft beim Arm und zerrte mich heraus. Ich stolperte und fiel ins regennasse Gras. Sofort zog er mich wieder hoch und stieß mich vor sich her, auf den Wasserfall zu. Der Whiskytrinker folgte uns mit Dad im Schlepptau. Nach den Stunden, die ich im Keller verbracht hatte, waren meine Kleider klamm und kalt, und ich hatte das Gefühl, dass mir nie wieder warm werden würde. In dem feinen Sprühnebel, der von den herabstürzenden Wassermassen in die Luft gewirbelt wurde und sich auf mich herabsenkte, als sie uns in die Höhle führten, begann ich zu zittern.
In der Höhle erwarteten uns Marissa und der Student bereits. Sie hatten überall Sturmfackeln aufgestellt, sodass die Felswände in flackernden, orangefarbenen Schein getaucht waren. Im zuckenden Licht wirkten die Schatten der Menschen lebendig, wuchsen im einen Moment bis unter die Höhlendecke an, nur um im nächsten wieder in sich zusammenzufallen. Die ständige Bewegung erweckte den Eindruck, als befände sich eine weit größere Anzahl an Menschen in der Höhle als unsere sechs Entführer, Dad und ich.
»W o ist das Tor?«, rief der Whiskytrinker über das Donnern des Wasserfalls hinweg.
Die Frage war an Dad gerichtet gewesen. Ich drehte mich zu ihm herum, um zu sehen, ob er antworten würde. Er hatte es nicht vor. Der Whiskytrinker packte ihn und schüttelte ihn, und der Schmerz, der dabei durch Dads geschundenen Arm schoss,
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