Wesen der Nacht
flüsterte ich. Oh. Mein. Gott. Ich habe schon Beth an das Jenseits verloren. Ich will Serena nicht auch noch verlieren. »T ante Beth.«
Gus nickte.
»S ie wissen Bescheid?«
Wieder ein Nicken. Wie zum Henker konnte es sein, dass der Wachmann einer Wohnanlage über Familienangelegenheiten Bescheid wusste, über die mit mir offensichtlich niemand sprechen wollte? Wie kam es überhaupt, dass ein Bär als Wachmann arbeitete und… Der Knoten in meinem Hirn zog sich immer enger zusammen. »I ch glaube, Sie müssen weitererzählen, bevor mir die Sicherungen durchbrennen.«
»I ch versuche es der Reihe nach anzugehen.« Einen Moment lang saß er wieder schweigend da, die Stirn nachdenklich zerfurcht und den Blick auf den Anhänger in meiner Hand gerichtet. Als er schließlich aufsah, lag ein Ausdruck tiefsten Mitgefühls in seinem Blick. Als bedauerte er meine Ahnungslosigkeit. Oder die Tatsache, dass es jetzt an ihm war, mir Dinge zu erzählen, die mir eigentlich meine Eltern erzählen sollten. Dad hatte es vorgehabt! Darum war es bei dem Streit zwischen Mom und ihm gestern gegangen. Er wollte mich einweihen und sie hatte Angst davor!
»N iemand weiß, woher die Tore kamen und wie sie entstanden sind«, nahm Gus den Faden wieder auf. »M anche halten es für Zufall, andere für Bestimmung. Wieder andere sind der Ansicht, dass eine Verschiebung magischer Kraft im Jenseits Schuld an ihrer Entstehung war. Als wäre die Welt von Magie überfüllt gewesen und hätte eine Art Abfluss dafür gesucht. Vermutlich werden wir den wahren Grund nie erfahren, eines Tages jedoch waren sie einfach da.«
Ich kämpfte gegen die Frage an, die mir über die Lippen drängte.
»E s gibt etwa zwei Dutzend«, sagte Gus, ohne dass ich laut ausgesprochen hatte, was ich wissen wollte. »S ie sind über die ganze Welt verteilt. Auf den ersten Blick scheinen es keine besonderen Orte zu sein, keine Stellen, an denen es besondere Kultstätten oder Kraftlinien gegeben hätte, sondern scheinbar willkürliche Plätze. Als die Tore vor vielen Jahrhunderten entstanden, waren die Menschen nicht auf das vorbereitet, was da durch die Tore kam. Wesen, die bisher nur in ihren Geschichten und Legenden existierten, drängten in diese Welt. Es war eine lange und finstere Zeit voller Kämpfe und großer Schlachten, an deren Ende es den Menschen schließlich gelang, die Dämonen zurückzudrängen, die sie zu überrennen drohten. Mit den Dämonen war zusätzliche Magie in die Welt gelangt. Ohne diese Magie wären die Menschen verloren gewesen, denn nur mit ihrer Hilfe gelang es ihnen, die Dämonen zu vertreiben und die Tore wieder zu verschließen.«
»A ber wohl nicht dauerhaft«, warf ich ein.
»D ie Wirkung war nicht von Dauer«, bestätigte er. »D ie Zauberformeln mussten regelmäßig erneuert werden und trotzdem gelang es immer wieder vereinzelten Wesen, die Tore zu durchschreiten. Wächter wurden ausgewählt, deren Aufgabe es ist, die Magie aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass niemand durch die Tore gelangt, und zwar bis zum heutigen Tag. Sollte es dennoch einem Wesen gelingen, gibt es Jäger, die diese Illegalen aufspüren, einfangen und nach Hause schicken.«
Wenn sich keine Wesen von drüben in unserer Welt aufhalten durften, wie kam es dann, dass Gus Miller hier war? Ich deutete auf ihn und einmal mehr schien mir meine Frage vom Gesicht abzulesen zu sein.
»I ch bin kein Illegaler«, sagte er. »A ber dazu kommen wir später. Einverstanden?«
Ich nickte. Das war vermutlich das Beste. Sobald ich den Mund aufmachte, würden die Fragen nur so aus mir heraussprudeln und ich würde so schnell nicht mehr aufhören können. Besser, ich schwieg und hörte noch eine Weile zu.
»D ie Menschen vergessen schnell. Ganz besonders Dinge, die sie sich nicht erklären können oder die ihnen Angst machen. Ähnlich war es mit dem Einfall der Dämonen, der schon ein paar Jahrzehnte später zu Lagerfeuergeschichten geworden war. Geschichten, mit denen man Kinder erschreckte, die aber niemand für bare Münze nahm. Ein paar jedoch konnten nicht vergessen, was passiert war – die Torwächter und die Jäger. Sie widmeten ihr Leben ihrer Aufgabe und unterwarfen alles andere der Pflicht, diese Welt zu beschützen. Um die Menschen nicht in Angst zu versetzen, behielten sie das Wissen um die Tore und die Welt jenseits der Pforten für sich. Seit Generationen werden ihre Aufgaben innerhalb der Familie weitergegeben, sodass nur wenige Außenstehende überhaupt je
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