Wesen der Nacht
Leg es um und nimm es am besten nicht mehr ab.«
In meiner Handfläche lag ein dunkelblauer Stein von der Größe einer Pfundmünze, durch ein Loch im oberen Teil war ein schwarzes Lederband gezogen, lang genug, um es um den Hals zu tragen. Neugierig drehte ich den Stein zwischen meinen Fingern hin und her und betrachtete die glasierte Oberfläche mit ihren unzähligen winzigen Rissen und Sprüngen. »E r fühlt sich warm an.«
»E r reagiert auf meine Anwesenheit. Ist dir noch schlecht?«
Die Übelkeit war wie weggeblasen. »N ein.« Ich hob den Stein. »D eswegen?«
Gus nickte. »I ch vermute mal, du hattest vor nicht allzu langer Zeit Geburtstag und seitdem ist dir immer mal wieder übel. Mal nur ganz kurz, manchmal über einen längeren Zeitraum hinweg, dann wieder tagelang gar nicht.«
»W oher wissen Sie das?«
»W eil es etwas mit dem zu tun hat, worüber wir sprechen müssen.« Er betrachtete mich eine Weile nachdenklich, schließlich sagte er: »D as Beste wird sein, du lässt mich erst einmal reden und sparst dir all deine Fragen und Kommentare für später auf.«
»K önnte schwierig werden.«
»D avon gehe ich aus. Denkst du, du schaffst es trotzdem?«
»M eine Hand würde ich nicht dafür ins Feuer legen.« Mir brannten ja schon jetzt unzählige Fragen auf der Zunge. »A ber ich werde es versuchen.«
»I ch mache es so kurz wie möglich. Bist du bereit?«
»S chießen Sie los.«
9
Eine Weile sah er mich nachdenklich an, als versuche er abzuschätzen, wie viel er erzählen sollte. Oder wie viel ich vertragen würde. Ich rutschte unruhig auf dem Hosenboden hin und her und fragte mich, ob ich ihn dazu drängen sollte, endlich loszulegen, oder ob ich lieber aufspringen und davonlaufen sollte, bevor er mir Dinge sagen konnte, die ich vielleicht gar nicht hören wollte.
»E s gibt noch eine andere Welt, als die, die du kennst«, begann er schließlich. »S ie existiert neben der unsrigen und ist durch eine Art magischer Tore von ihr getrennt. Es ist eine Welt, in der all die Kreaturen leben, die in unseren Märchen und Legenden existieren.«
»S o etwas wie Elfen und Feen?«, entfuhr es mir.
»N ein, die haben ihr eigenes Reich. Ich dachte eher an Wandler, Dämonen und noch einige andere Wesen.«
Meine Frage war eigentlich nur ein Witz gewesen, Gus klang jedoch, als meinte er es ziemlich ernst mit dieser Sache. Es war verrückt. Andererseits auch wieder nicht. Immerhin war dieser Mann ein Bär. Ein Wolf. Oder was auch immer er sonst noch sein konnte. Er hatte sich vor meinen Augen verwandelt. Jetzt begriff ich auch, was er damit gemeint hatte, als er sagte, er hätte befürchtet, ich würde ihm vielleicht nicht glauben. Verdammt richtig. Ich wollte ihm kein Wort glauben. Aber er hatte mich etwas sehen lassen, was es mir schwer machte, ihm keinen Glauben zu schenken. Warum sollte es keine andere Welt geben? Irgendwo mussten Wesen wie er schließlich herkommen, oder? »S ie sind nicht von hier.«
»N icht aus London, nicht aus England. Nicht einmal aus dieser Welt.«
»D as ist…«
Er betrachtete mich besorgt, als fürchtete er, ich könne ihm jeden Moment aus den Latschen kippen. »E rschreckend?«
»I rgendwie cool.«
»D ämonen sind cool?« Tiefe Falten zerfurchten seine Stirn.
»J a. Nein. Also wahrscheinlich eher nicht.« Ich stieß hilflos den Atem aus. »I ch habe echt keine Ahnung, aber dieses Tor… eine andere Welt… das scheint mir schon irgendwie cool zu sein.« Ich erinnerte mich an etwas anderes. »D eshalb haben Sie mir letzte Woche diese komischen Fragen gestellt! Über Dinge, die nicht in unsere Welt passen und Übernatürliches. Sie wollten wissen, wie viel ich weiß.«
»U nd du warst vollkommen ahnungslos.«
»D ann haben die Kerle, die mich überfallen haben, auch etwas mit dieser anderen Welt zu tun?«
»W olltest du nicht versuchen, keine Fragen zu stellen?«
»I ch fürchte, der Versuch ist gescheitert. Was ist nun mit diesen Kerlen? Waren das Dämonen?« Bei dem Gedanken wurde mir trotz des Anhängers schlecht, allerdings war es eine andere Art von Übelkeit, eine, die ihren Ursprung in nackter Angst hatte. Vielleicht hatte Gus recht und cool war nicht unbedingt das treffende Wort für eine Welt mit derartigen Kreaturen. »K amen sie von drüben?«
»A us dem Jenseits.«
»D em Totenreich?«
Er schüttelte den Kopf. »D as Jenseits, so nennen wir diese andere Welt. Die Welt jenseits der Pforten. Nein, sie kamen nicht von dort.«
»D as Jenseits«,
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