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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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länger als für ein Wochenende unterwegs gewesen und dafür hatte mein großer Rucksack immer gereicht. Vermutlich hätte er es auch für diese Reise getan, aber ich fürchtete, dass Mom misstrauisch werden könnte, wenn ich für einen zweiwöchigen Trip nur so wenige Sachen einpackte.
    Sie holte die Reisetasche aus ihrem Schrank und brachte sie in mein Zimmer, wo ich inzwischen begonnen hatte, Klamotten auf dem Bett auszubreiten. »L eider kann ich dich nachher nicht zum Bahnhof fahren, Serena. Clep hat mich dazu verdonnert, auf das Life and Death of a Tin Can- Konzert zu gehen und einen Artikel darüber zu schreiben.« Mom hasste Indie-Bands, und noch mehr hasste sie es, wenn George Clapperman sie dazu verdonnerte, über einen dieser Gigs zu berichten. Mir hingegen kam es ausgesprochen gelegen. Den ganzen Nachmittag schon hatte ich darüber gegrübelt, wie ich sie davon abhalten konnte, mich zum Bahnhof zu fahren und bei meiner Klasse abzuliefern. Einer Klasse, die nicht nur erst zwei Stunden später auftauchen würde, sondern für die ich obendrein noch krank und ansteckend im Bett lag. Wenn es eine höhere Macht gab, schien sie mir im Augenblick gewogen zu sein.
    Der Abschied von Mom fiel mir überraschend leicht. Während der letzten zwei Wochen hatten wir uns so oft in die Haare bekommen, dass ich sogar froh war, für eine Weile von ihr wegzukommen. Weshalb ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Natürlich verzichtete sie nicht auf ein Dutzend Ermahnungen, vorsichtig zu sein. »D u musst dich regelmäßig melden und mir versprechen, dass du drangehst, wenn ich anrufe.«
    Ich erinnerte sie daran, dass wir viel Zeit in Museen verbringen und sogar an einigen Tagen am Unterricht in einer schottischen Schule teilnehmen würden, weshalb ich unmöglich jederzeit rangehen konnte. »M om, hör auf, dir Sorgen zu machen. Uns begleiten sechs Lehrer und du kennst Mr Holiday, der ist wie ein Wachhund.« Nach unserer letzten Klassenfahrt hatte ich mich ausgiebig bei ihr darüber beklagt, dass er uns nie aus den Augen gelassen hatte. Es war unmöglich gewesen, sich auch nur für eine Stunde davonzustehlen.
    Glücklicherweise schien sie sich daran zu erinnern. »A ber ich erwarte, dass du mich täglich anrufst.«
    »D as werde ich.« Ich konnte das Festnetztelefon im Cottage benutzen, falls mein Handy dort keinen Empfang hatte.
    Mom drückte mir Geld für ein Taxi in die Hand, damit ich nicht mit der U-Bahn zum Bahnhof fahren musste, und legte dann noch ein paar Scheine Taschengeld obendrauf. Wir umarmten uns, versprachen uns, dass wir einander vermissen würden, und wünschten uns eine gute Zeit, dann nahm sie ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zu ihrem ungeliebten Konzert. Ich lief nach oben, holte den Elektroschocker aus meiner Schultasche und steckte ihn in die Reisetasche.
    Sobald es für mich Zeit wurde, rief ich ein Taxi. Als ich den Bahnhof erreichte, blieb mir noch eine Dreiviertelstunde bis zur Abfahrt. Ich zahlte das Taxi, nahm meine Tasche und ging mit schnellen Schritten an den Bettlern und Obdachlosen vorbei, die den Platz vor dem Eingang besiedelten. Die Euston Station war ein hässlicher Betonriegel aus den 60er-Jahren, lang und flach und in erster Linie grau. Obwohl es mittlerweile nach acht Uhr war, war die Bahnhofshalle noch immer voller Menschen, die mit Koffern und Taschen zu ihren Zügen eilten oder von einem Laden zum anderen schlenderten, auf der Suche nach etwas Essbarem. Ich hatte einmal Bilder gesehen, wie der Bahnhof früher ausgesehen hatte. Wirklich kein Vergleich. Es war eine Schande, was sie aus dem tollen Gebäude gemacht hatten.
    Ich kaufte mir eine Flasche Wasser, zwei abgepackte Sandwiches und ein Taschenbuch (nach all den Jenseitsgeschichten hatte ich mich tatsächlich dazu hinreißen lassen, mir das erste Abenteuer von Sergej Darkov auszusuchen) und ging zum Bahnsteig, wo mein Zug bereits wartete. Ich suchte mir einen Liegesitz in einem Großraumwagen und richtete mich gemütlich ein.
    Als der Zug schließlich den Bahnhof verließ und an Fahrt aufnahm, begann es draußen zu dämmern. Eine Weile beschäftigte ich mich mit Sergejs Abenteuer, doch meine Gedanken waren zu unruhig, um mich darauf zu konzentrieren. Schließlich klappte ich das Buch zu und sah aus dem Fenster, bis es endgültig dunkel wurde und ich nichts mehr erkennen konnte als mein eigenes, angespanntes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Irgendwann zwischen dem ersten und dem zweiten Sandwich schlief ich

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