Wesen der Nacht
sich Cales Astralleib aufgelöst hatte, war er auf die vertraute Art bei mir geblieben– als Stimme in meinem Kopf. Wir sprachen lange miteinander, schmiedeten Pläne und malten uns aus, wie es sein würde, wenn wir einander zum ersten Mal wirklich gegenüberstanden. Von Mensch zu… Jenseitswesen. Nicht von Mensch zu Astralprojektion. Die Vorstellung, ihn berühren und spüren zu können, weckte ein unsicheres Kribbeln, eine Mischung aus Vorfreude und auch ein wenig Angst. Ich fragte mich, wie gut es um die Sehkraft einer Astralprojektion bestellt war. Immerhin hatte er mich schön genannt. Und das ohne Make-up. Und ohne die dunkel umrandeten Augen kam ich mir blass und nackt vor. Entweder war Cale zu höflich, mir das zu sagen, oder aber sein Astraldingens konnte das nicht so gut erkennen und ihn würde der Schlag treffen, wenn wir uns zum ersten Mal in Wirklichkeit gegenüberstanden. Hoffentlich war ich dann geschminkt. Und wenn ihm das auch nicht gefiel? Trick sprach immer von meiner Gruftköniginnen-Maske, auch wenn ich weder ein Grufti noch selbstmordgefährdet oder ein Jünger Satans war. Ich stand eben auf diese etwas extreme Form von Smokey Eyes. Ich war einfach ich– mit einer Vorliebe für dunkle Schminke. Ich wickelte mich in ein Handtuch und versuchte meinen nassen Locken mit der Bürste beizukommen, während ich mich fragte, warum ich mir so viele Gedanken machte. Bisher hatte es mich nie sonderlich interessiert, was ein Junge von mir oder meinem Make-up hielt. Ich mochte es, das war alles, was zählte. Nicht einmal Dereks Besuch gestern hatte mich dazu gebracht, über mein Aussehen nachzudenken. Egal wie ich es drehte und wendete, ich kam immer zum gleichen Ergebnis: nämlich, dass Pepper gar nicht so verkehrt lag. Ich war eindeutig in Cale verknallt, und das schon, bevor ich ihn zum ersten Mal wirklich gesehen hatte.
Ich gab den Kampf mit meinen Haaren auf, fasste sie zu einem Zopf zusammen und zog mich an. Nachdem ich mein Make-up aufgelegt und meine Augen ausgiebig mit Kajal umrandet hatte, fühlte ich mich gleich viel besser.
Auf der Treppe nach unten kam die Erinnerung an heute Nacht. Ich war nachts wach geworden und hatte geglaubt, Geräusche zu hören, die aus der Küche nach oben drangen. Mir war sofort klar, dass es weder Dad noch Trick sein konnten, denn die beiden hätte ich erkannt. Eine Weile hatte ich mir eingeredet, es sei das Haus. Altes Holz, knarrende Stufen. Das volle Gruselprogramm. So was kann ja leicht mal nach einem Seufzen oder geflüsterten Worten klingen. Aber nicht nach Gesang oder dem Klirren von Geschirr. Einmal war ich aufgestanden und zur Treppe geschlichen und hatte gelauscht. Alles war ruhig. Kein Gesang, kein Geschirr. Überzeugt davon, dass es wohl doch die Geräusche des Hauses, das Prasseln des Regens und das Rauschen des Windes gewesen waren, die mich aufgeschreckt hatten, war ich ins Bett zurückgekehrt.
In der Küche holte ich mir aus der Speisekammer eine der Kekspackungen, die ich gestern entdeckt hatte. Nicht unbedingt meine Vorstellung eines gelungenen Frühstücks, aber das Einzige, das im Haus war– wenn man einmal von Dosenravioli und ein paar anderen frühstücksuntauglichen Konserven absah. Da es keine Milch gab, die nicht bereits alt genug gewesen wäre, um ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln, verzichtete ich darauf, mir einen Kaffee zu machen, und griff stattdessen nach der Colaflasche. Auf dem Weg zur Spüle, wo ich eines der Gläser von gestern holen wollte, knirschte es plötzlich unter meinen Fußsohlen. Als ich nach unten sah, entdeckte ich eine Handvoll Kartoffelchips, fein säuberlich unter meinem Gewicht zermahlen.
Wo kamen die plötzlich her?
Ich schnappte mir Schaufel und Handbesen, fegte die Reste zusammen und entsorgte sie vor der Haustür, damit wenigstens die Vögel noch etwas davon hatten. Wirklich seltsam, denn Derek und ich hatten die Chips gestern nicht angefasst. Vielleicht waren es Mäuse. Etwas sagte mir jedoch, dass die wenigsten Nager extra scharfe Chili-Chips anrühren würden. Nager nicht, aber vielleicht Wesen, die im Keller… Unwillkürlich tastete ich nach dem Anhänger an meinem Hals. Immer noch warm.
Bist du angezogen, Prinzessin?
Einen Moment lang verwirrte mich die Frage, bis ich begriff, dass Cale sich zeigen wollte. »J a, du kannst kommen«, antwortete ich, noch ganz in Gedanken.
Obwohl er sich angekündigt hatte, erschrak ich nun doch, als sich sein Abbild unmittelbar neben mir materialisierte. So
Weitere Kostenlose Bücher