Westfalenbraeu - Ostwestfalen-Krimi
psychischen Problemen«, antwortete Dagmar Winkelmann mit erstaunlicher Offenheit. »Die Familie Winkelmann hat die besten Ärzte Europas aufgesucht. Alle sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Hoffnung auf Besserung gibt. Er leidet unter einer schweren Form von Autismus. Wie viele Menschen mit diesem Krankheitsbild ist auch Frank-Walter ein sogenannter Inselbegabter. Er besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen. So jemand ist allerdings nicht in der Lage, die Finanzen einer der größten Brauereien der Region zu leiten.«
»Wieso hat er den Posten überhaupt bekommen?«, wollte Bettina wissen.
»Helene, seine Mutter. Sie hat alles für ihn getan, er ist immer ihr kleiner Junge geblieben. Niemand hat verstanden, warum, aber sie hatte ein Leben lang ein schlechtes Gewissen. Dabei trifft sie keine Schuld an seiner Behinderung. Als Helene vor ein paar Jahren gestorben ist, fehlte plötzlich seine wichtigste Bezugsperson. Bernhard hat versucht, für ihn da zu sein.«
»Und Ihr Schwiegervater?«, fragte Jan. »Was hat er dazu gesagt?«
Dagmar Winkelmann verzog die Mundwinkel zu einem künstlichen Lächeln. Es schien, als verliere sie allmählich ihre Contenance.
»Was soll er schon dazu sagen.« Der Satz klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage. »Frank-Walter ist nicht sein leiblicher Sohn.«
»Wie bitte?«
»Er ist das, was man ein Kuckuckskind nennt«, antwortete sie achselzuckend. »Claus hat es erst durch einen Zufall nach Helenes Tod erfahren. Bernhard hat mir gesagt, dass Frank-Walter das Produkt einer Affäre seiner Mutter war. Mit wem, werden wir wohl nie erfahren.« Sie atmete schwer durch, dann setzte sie noch einmal an. »In dieser Familie geht es manchmal zu …« Sie brach erneut ab. Jan glaubte Tränen in ihren Augenwinkeln erkennen zu können.
»Können Sie sich vorstellen, dass Frank-Walter Ihren Mann vor den Zug gestoßen hat?«
Dagmar Winkelmann fixierte Bettina einen Moment lang, als denke sie darüber nach, was sie von der Frage der jungen Kriminalpolizistin halten solle. Dann schüttelte sie energisch den Kopf.
»Auch wenn er ein Taugenichts war und gelegentlich zu Jähzorn neigte: Ich traue ihm nicht zu, dass er seinen eigenen Bruder umgebracht hat. Dazu ist er viel zu feige.«
»Ist Ihnen denn an Bernhard in letzter Zeit etwas aufgefallen?«, fragte Jan weiter.
»Mein Mann war schon immer rastlos. Jemand, der ihn nicht kannte, hätte der Meinung sein können, er stehe kurz vor einem Herzinfarkt. Aber so war er nun mal. Die Arbeit war sein Leben.«
Jan spürte, dass es an der Zeit war, die trauernde Witwe auf die Tatnacht und Bernhard Winkelmanns letzte Stunden anzusprechen. Es fiel ihm schwer, die passenden Worte zu finden, als er Dagmar Winkelmann von der seltsamen Taxifahrt und den Kondomen berichtete.
Je länger er sprach, desto ungläubiger betrachtete ihn Dagmar Winkelmann. Schließlich verzog sie ihren Mund erneut zu einem verächtlichen Lächeln.
»… deshalb gehen wir derzeit davon aus, dass er kurz vor seinem Tod geschützten Geschlechtsverkehr mit einer uns noch unbekannten Frau hatte«, schloss Jan.
»Ich möchte, dass Sie jetzt gehen«, antwortete Dagmar Winkelmann nach einem kurzen Moment des Schweigens. »Vielleicht können Sie verstehen, dass ich alleine sein möchte.«
»Natürlich«, gab sich Jan einfühlsam. »Es tut mir leid für Sie, wir hätten Ihnen das gerne erspart.«
»Vielleicht wäre das sogar besser gewesen«, sagte sie kurz.
»Sie hören heute also zum ersten Mal davon, dass Ihr Mann Sie betrogen hat?«
Jan blickte Bettina verdutzt an. Wieder war sie einen Schritt zu weit gegangen. Selbst wenn Dagmar Winkelmann tatsächlich wusste, was ihr Ehemann hinter ihrem Rücken getrieben hatte, war ihre Frage zu direkt und wenig vertrauensbildend gewesen. Ihr Fingerspitzengefühl war ausbaufähig. Umso überraschter war er, als er Dagmar Winkelmanns Antwort hörte.
»Nein, Bernhard hat mich seit Jahren betrogen. Wir hatten gewissermaßen ein stilles Abkommen geschlossen: Jeder durfte sich ausleben, wie es ihm gefiel. Für unsere Tochter waren wir weiterhin die glückliche Familie. Im Laufe der Zeit haben wir uns bestens mit der Situation arrangiert, wir sind uns sogar wieder nähergekommen. Bernhard und ich waren zuletzt tatsächlich glücklich, wir haben uns geliebt.«
Ihre Augen wurden feucht, einige Tränen rannen ihre Wangen hinunter. Jan versuchte einzuschätzen, ob die elegant in Schwarz gekleidete Frau eine
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