Westmoreland 4 Das Wunder der Liebe
Gläsern befand. Er zog den Verschluß aus der Brandy-Karaffe und warf einen Blick über die Schulter, um sie zu fragen, ob sie vielleicht etwas trinken wollte. Was er sah, ließ ihn erst die Stirn runzeln und sich dann voll umdrehen. Sie saß auf dem Sofa, beugte sich aber aus der Hüfte heraus weit vor, um etwas auf dem Boden zu betrachten. »Was machen Sie da? « wollte er wissen.
»Ich habe keine Zehen mehr«, erwiderte sie ohne aufzublicken.
»Was meinen Sie damit? « fragte Nicki gereizt, da ihm inzwischen dämmerte, daß ihre gleichermaßen schockierenden wie amüsanten Reaktionen im Irrgarten sehr wohl das Ergebnis eines gepflegten Rauschs oder einer gelinden Geistesverwirrung sein konnten. »Können Sie aufstehen? « erkundigte er sich scharf.
Bei seinem Tonfall versteifte sich Julianna und richtete sich wieder auf. Wie gelähmt durch sein verändertes Verhalten stand sie gehorsam auf und wollte kaum glauben, daß der gereizte Mann da vor ihr derselbe war, der mit ihr gescherzt und... sie geküßt hatte.
Sie sieht total verwirrt aus, erkannte Nicki. Verwirrt und desorientiert. Aus seiner durch Enttäuschung und Mißmut über seine eigene Naivität gesteigerte Verärgerung heraus fragte er schneidend: »Sind Sie in der Lage, irgend etwas zu äußern, was mich davon überzeugen könnte, daß Sie im Moment zu klaren Gedanken fähig sind? «
Der allzu bekannte Tonfall ließ Julianna zusammenzucken. Das waren wieder die knappen, autoritären Töne, die verächtliche Arroganz, die sie im Hyde Park verletzt und gedemütigt hatten. Heute verlangsamte der Brandy ihre Reaktion, aber letztlich war die Wirkung ähnlich verheerend. »Ich denke schon«, erwiderte sie leise und reckte das Kinn. »Wollen wir mit griechischer Philosophie beginnen? « Julianna verschränkte die Hände im Rücken und tat so, als würde sie das Gemälde über dem Kamin inspizieren. »Sokrates machte ein paar sehr interessante Bemerkungen über Wissen und Ethik. Plato war profunder... «
Sie brach ab, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und sich an das zu erinnern, was sie über Philosophen wußte, klassische und moderne. »Von den moderneren Denkern... «, begann sie erneut, »hat es mir besonders Voltaire angetan. Ich schätze seinen Witz. Aber von allen neuzeitlichen... « Ihre Stimme versickerte, denn sie spürte, wie er hinter ihr nahe an sie herantrat. Dann zwang sie sich zum Weitersprechen. »Aber von allen neuzeitlichen Philosophen gefällt mir eine Frau am besten. Sie hieß Sarah. «
Er blieb so nahe stehen, daß sie ihn buchstäblich in ihrem Rücken spürte. Bebend vor Unsicherheit fragte Julianna: »Soll ich Ihnen Sarahs Lieblingstheorie mitteilen? «
»Auf jeden Fall«, flüsterte er. Sein Atem traf ihre Schläfen.
»Sarah war fest davon überzeugt, daß Frauen Männern früher einmal überlegen waren, daß die Männer dann aber in ihrer betrügerischen Arroganz eine Möglichkeit fanden... «
Juliannas ganzer Körper verspannte sich, als sich seine Hände von hinten um ihre Schultern legten und sie an sich zogen. »Die Männer fanden einen Weg, uns und sich selbst davon zu überzeugen, daß Frauen eigentlich Schwachköpfe und... «
Seine warmen Lippen berührten eine empfindliche Stelle hinter ihrem Ohr und schickten Schauer durch ihren ganzen Körper. »Fahren Sie fort«, drängt er. Seine Stimme war wie Samt, seine Lippen bewegten sich an ihrem Ohr. Julianna versuchte es, brachte aber nur einen zitternden Seufzer hervor. Der Brandy schläferte ihre Vernunft ein, überzeugte sie davon, daß das hier richtig war. Entweder das hier oder Sir Francis Bellhaven: bittersüße, verbotene Qual mit wehmütigen Erinnerungen oder ein Leben mit einem Mann, der Übelkeit in ihr erregte.
Nicki spürte, wie ihr Herz unter seiner Hand raste, als sie um ihre Taille nach vorn glitt und sich Zeit ließ, ihre volle Brust zu umfassen. Er küßte sie auf die Schläfe, die samtweiche Wange. Sie duftete nach frischer Luft und Blumen und fühlte sich in seinen Armen an wie... Holz.
Sie atmete so heftig, als wäre sie gerannt, ihr Herz hämmerte vor... Angst.
Nicki hob den Kopf und drehte sie wortlos zu sich herum. Ungläubig starrte er auf die hektische Röte ihrer Wangen, in die Augen, die zu dunkelblauen Seen geworden zu sein schienen. Die Röte ihrer Wangen vertiefte sich vor Verlegenheit, als er jeden Zentimeter des feinen Gesichts erforschte und nach etwas suchte, nach irgend etwas, das darauf hinwies, daß dies alles für sie nicht
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