Westwind aus Kasachstan
bis wir aussiedeln können.«
»Auch in einem Jahr ändert sich mein Entschluß nicht!« sagte Frantzenow. »Ich bleibe bei Wolfgang. Wir sollten zusammen sterben – jetzt werden wir zusammen leben. Das ist mein letztes Wort.«
»Ich höre es nicht. Ich habe nichts gehört.« Nurgai sprang vom Stuhl auf und wanderte im Zimmer hin und her. Ab und zu blieb er stehen und hieb mit der Faust gegen die Wand. »Ich weigere mich, das Entlassungsgesuch anzunehmen!«
»Ich kann auch an Minister Viktor Michailow direkt schreiben.«
»In ein Irrenhaus wird er Sie einsperren lassen!«
»Ich weiß, das war die bevorzugte Methode, unliebsame Personen verschwinden zu lassen. Denken wir an Sacharow. Verurteilt zu einem Tod auf Raten. Aber das gibt es nicht mehr, Kusma Borisowitsch. Der KGB ist nicht mehr der heimliche Regent des Staates. Das tut manchen ungemein weh, Ihnen vielleicht auch, aber diese Zeiten werden nie wiederkommen. Endlich kann ein Mensch über sich selbst verfügen.«
»Was in das Chaos führt!« Nurgai blieb vor dem Bett stehen. »Da ist ein Sträfling, der über siebzig Jahre an Ketten hängt, in einem dunklen Kerker, und plötzlich geht die Tür auf, jemand kommt herein, schließt die Ketten auf und führt ihn ins Freie. Glauben Sie, der Mann könnte sofort laufen, könnte in die Sonne sehen, ohne geblendet zu werden? Genauso geht es Rußland. Es ist frei, aber es kann nicht laufen. Andrej Valentinowitsch, Sie haben es doch in den Zeitungen gelesen: Die Kriminalität ist um 200 Prozent gestiegen. Heroin und Kokain kommen ins Land, eine neue Mafia verdient daran Millionen. Aids, bisher kaum relevant, breitet sich aus. Der Schwarzmarkt verhindert jede vernünftige Wirtschaftsplanung, in den großen Städten nimmt die Prostitution überhand. Sabotage, Diebstahl, Unterschlagung, Bandenverbrechen, Mord, Betrug, Faulheit … Rußland ist das größte Agrarland der Welt, aber die Getreideernte ist so mies, daß wir Weizen, Roggen und Hafer von Amerika kaufen müssen. Nichts klappt mehr, die Menschen stehen weiterhin in Schlangen vor den leeren Geschäften, und im Winter hungern sie. Der Westen muß Millionen Pakete schicken, damit sie überleben! Sie haben es gut, Frantzenow. Für Sie sind die Türen geöffnet, ja … aber anstatt diesem hilflosen Volk zu helfen, ein geistiger Arbeiter des Aufbaus zu sein, wollen Sie in den fetten Westen flüchten, lassen Sie Ihr Rußland allein und verraten ihre Heimat.«
»Heimat?« fragte Frantzenow gedehnt.
»Ja. Heimat. Sind Sie nicht an der Wolga geboren worden?«
»Es werden Kinder auf dem Schiff, im Flugzeug oder sonstwo geboren. Ist das Flugzeug ihre Heimat?«
»Welch ein dummer Vergleich! Auf die Abstammung kommt es an.«
»Das wollte ich hören. Ich stamme nicht von russischen Eltern ab, sondern von deutschen. Was bin ich also?«
»Wortklauberei ist das! Seit dem zehnten Lebensjahr sind sie russisch erzogen worden, Sie sprechen russisch wie ihre Muttersprache, dagegen ist ihr Deutsch miserabel, Sie haben russische Verdienstorden bekommen, Rußland hat Sie mit staatlichen Stipendien studieren lassen, alles an Ihnen ist russisch. Und durch einen dummen Schuß entdecken Sie plötzlich deutsche Ahnen!«
»Er ist mein Bruder«, mischte sich Erna ein. »Und ich war nie eine Russin. Die Frantzenows waren immer Deutsche.« Sie legte die Hand auf den Arm ihres Bruders, es sah aus, als halte sie sich daran fest, oder als klammere sie sich fest, damit er nicht wegging. »Ich bin so glücklich, daß er zurückgekommen ist.«
»Und ich bleibe auch. Mich kann keiner mehr zwingen.«
»Wenn das nur kein Irrtum ist!« erwiderte Nurgai trocken. »Ich nehme Ihr Gesuch nicht an, nicht mit dieser Begründung! Wenn Sie schreiben, ich habe bei mir eine Geisteskrankheit festgestellt, dann – vielleicht – würde ich mich damit beschäftigen.«
»Sobald die Wunde verheilt ist und ich wieder richtig gehen kann, werde ich nach Kirenskija kommen, meine Sachen packen und Sie für immer verlassen. Sie können mich nicht aufhalten, Kusma Borisowitsch!«
»Ich nicht, aber vielleicht General Wechajew.«
»Was hat Wechajew mit mir zu tun? Er ist Soldat, ich bin Zivilist.«
»Er kann sie als Sicherheitsrisiko verhaften.«
»Dazu hat er keinen Grund.«
»Er hat ihn!« Nurgai kostete seinen Triumph aus und wippte auf den Schuhspitzen auf und ab. »Wir werden nach Moskau melden, daß Sie mit iranischen Aufkäufern verhandelt haben und daß auch die USA ein Angebot unterbreitet
Weitere Kostenlose Bücher