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Westwind aus Kasachstan

Westwind aus Kasachstan

Titel: Westwind aus Kasachstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Lippen küßte.
    »O Papa … Papa …«, murmelte sie halblaut. Dann brach ihr die Stimme. Sie warf sich mit dem Gesicht in das Kissen, und endlich konnte sie weinen und alle Beherrschung von sich abstreifen und das sein, was sie noch war: Ein junges, hilfloses Mädchen, das so tapfer sein wollte wie ihre Mutter.
    Das Wiedersehen zwischen Erna und ihrem Bruder Andreas war kurz. Sie waren nicht allein. Nurgai war schon früher gekommen und saß an Frantzenows Bett. Er hatte einige Bücher mitgebracht, keine Fachbücher über Atomwissenschaft, sondern Romane von Bulgakow, Pasternak und Solschenizyn. Obwohl er ahnte, wer die Frau war, die hereinkam und Frantzenow umarmte und küßte und einige Tränen der Freude vergoß, blieb er auf seinem Stuhl sitzen. Frantzenow warf ihm einen bittenden Blick zu, aber Nurgai reagierte nicht darauf.
    »Das ist Kusma Borisowitsch Nurgai«, stellte Frantzenow ihn endlich vor. »Meine Schwester Erna Emilowna.«
    »Das habe ich mir gleich gedacht, als Sie ins Zimmer kamen.« Nurgai erhob sich leicht und deutete eine Verbeugung an. »Es ist schrecklich, unfaßbar, was hier passiert ist. Wir alle leiden mit Ihrem Mann und Andrej Valentinowitsch. Übrigens, morgen will General Wechajew einen Besuch bei Ihnen machen. Oder ist es noch zu früh?«
    »Nein. Ich fühle mich gut. Und Wolfgang, habe ich gehört von der Schwester, ist wieder bei Bewußtsein.« Er sah Erna an und nickte zu Nurgai hin. »Kusma Borisowitsch ist der Leiter von Kirenskija.«
    »Ich freue mich, daß Sie meinen Bruder besuchen.«
    »Das hat seinen Grund.« Frantzenow lachte, aber es klang wie einstudiert. »Ich kämpfe mit ihm …«
    »Du kämpfst?« Sie drehte den Kopf zu Nurgai. »Warum denn?«
    »Der Schuß hat nicht nur sein Bein getroffen, sondern auch sein Hirn! Ich wußte bis jetzt nicht, daß der Verstand im Oberschenkel steckt. Schreibt er mir doch einen Brief, können Sie das glauben? Einen Brief! Und was steht drin? Ich bitte um meine Entlassung. Ich will meinen Schwager Weberowsky nach Deutschland begleiten.«
    Erna fuhr herum. Frantzenow nickte. »Du willst wirklich …« Sie ergriff seine Hände und drückte sie. Sie spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen.
    »Ja.«
    »Ich danke dir, Andrej. Aber …« Sie holte tief Luft, um ihr Herz zu beruhigen. »Keiner weiß, ob Wolferl diese Reise machen kann. Wenn er für immer im Bett liegenbleiben muß …«
    »Wir können ihn auf einer Bahre hinüberfliegen.«
    »Was erwartet ihn in Deutschland? Ein Zimmer oder eine Baracke, wo er nur die Decke anstarren kann. In Nowo Grodnow kann er im Garten liegen, sieht die Sonnenblumen und die Apfelbäume, sieht den Mähdrescher vom Feld zurückkommen, hört die Kühe und die Hühner und die Enten. Auch wenn er sich nicht rühren kann, er ist mittendrin im Leben. Und die Freunde besuchen ihn, und wir werden ihn bei den Dorffesten hinausrollen, er wird überall dabei sein. Was soll er in Deutschland?«
    »Es ist sein großer Traum, Erna. Das weißt du. Er hat in letzter Zeit nichts anderes im Kopf gehabt als die Hoffnung, umsiedeln zu können. Für ihn ist Deutschland das gelobte Land.«
    »Hör einer an, wie er spricht!« Nurgai klatschte sich auf die Oberschenkel. »Vor zwei Wochen hat er noch gesagt: Ich bin ein Russe! Der Iran wollte ihn abwerben. Für Millionen Dollar! Und was hat er geantwortet? Nein, ich bin ein Russe! Und auf einmal will er ein Deutscher sein.«
    »Die Schüsse auf mich und Wolfgang haben meine Welt verändert. Ich habe eine neue Aufgabe bekommen. Ich weiß jetzt, wo ich hingehöre.«
    »Nach Moskau, als Präsident der russischen Atomforschung.«
    »Ich will nichts mehr mit Atom zu tun haben.«
    »Hören Sie das, Erna Emilowna, hören Sie das?« rief Nurgai aufgebracht. »Rußlands Starwissenschaftler gibt Moskau einen Korb! Ignoriert die höchste Ehre, die man erhalten kann. Will in Deutschland in einem Gärtchen sitzen und den Bienen zusehen, wie sie in die Blüten krabbeln! Wahnsinn ist das doch. Wahnsinn!«
    »Noch sind wir nicht in Deutschland, Kusma Borisowitsch.« Erna blickte an ihm vorbei zum Fenster. Es stand offen, ein warmer Wind wehte ins Zimmer. Hier ist noch Sommer, dachte sie. In Nowo Grodnow spürt man schon den Herbst. Und dann ist schnell der Winter da mit seinen heftigen Stürmen, die von allen Seiten kommen, vom Altai und vom Ural. Die Bäume werden sich biegen, und ein Heulen wird um das Haus sein. Wie kann man da einen Gelähmten transportieren? »Es wird vielleicht ein Jahr dauern,

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