Westwind aus Kasachstan
ihr, nach russischer Sitte, drei Wangenküsse und blickte dann wieder hinauf zu Kiwrin. »Für die Familie Weberowsky und den Pfarrer –«, erblickte zu Heinrichinsky, »ich nehme an, das sind Sie …«
»Ja, wir haben miteinander telefoniert.«
»… für sie sind Zimmer bestellt. Der Herr Bezirkssekretär wird sicherlich bei seinen Genossen schlafen wollen. Das Parteihaus liegt ungefähr 500 Meter von hier. Sie können es nicht verfehlen, die rote Fahne weht noch auf dem Dach.«
Kiwrin sprang aus dem Bus, ohne die Stufen zu benutzen, und kam auf Bergerow zu. Gottlieb wollte sich ihm in den Weg stellen, aber Hermann hielt ihn zurück.
»Wo soll ich schlafen?« knirschte Kiwrin.
»Bei Ihren Genossen.«
»Ich lasse das Haus beschlagnahmen!«
»Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, oder hat man in Atbasar noch nichts von Gorbatschow und Jelzin gehört?«
»So ein deutscher Oberlehrer!« Er stellte sich neben Erna und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bleibe bei Erna Emilowna.«
»Hör auf zu schreien, Michail Sergejewitsch«, sagte sie. Ihre Lider flatterten, sie hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. »Ich bin müde. Ich will Ruhe haben.«
»Sie ist müde!« schrie Kiwrin den beleidigten Bergerow an. »Sie braucht Ruhe! Was stehen Sie hier noch herum? Zeigen Sie die Zimmer!«
Bergerow ließ Kiwrin stehen und begrüßte Eva, die als letzte aus dem Bus kletterte. »Wie kann man es nur mit diesem Menschen aushalten?« fragte er dabei. »Die Fahrt muß doch eine Tortur gewesen sein, oder wie Ihre Generation es ausdrückt: Ein Horrortrip.«
»Es war eher lustig.« Eva lachte und wischte ihr blondes, jetzt verschwitztes Haar aus der Stirn. Sie machte keineswegs den Eindruck, von ihrem todkranken Vater zu kommen und von seinem Anblick erschüttert zu sein. »Der Bus hat uns viel Freude gemacht.«
»Unglaublich.«
»An jeder Tankstelle bekam Kiwrin Streit. Das hätten Sie hören müssen. Es ist ein Erlebnis, Kiwrin toben zu sehen. Diese Ausdrücke. Dabei hat er ein weiches Herz, wie Butter in der Sonne.«
»Noch unglaublicher.«
»Er ist Papas bester Freund.«
»Das ist das Unglaublichste! Ein Parteifunktionär in Kasachstan Freund eines Deutschen? Das paßt doch nicht zusammen.«
»In Atbasar ist vieles anders als in anderen Bezirken. Schon Kiwrins Vater war Bezirksvorsitzender und hat Opa Anton beim Bau des Dorfes unterstützt, gegen den Willen der Baubehörde.«
»Das habe ich nicht wissen können.« Bergerow ging zurück zu Kiwrin. Erna hatte sich auf Hermann gestützt und die Augen geschlossen.
»Mutter kann nicht mehr stehen.« Hermanns Stimme war voll Sorge. »Zeigen Sie uns die Zimmer. Sie haben den ganzen Abend Zeit, sich mit Kiwrin zu streiten, von mir aus die ganze Nacht. Mutter muß sich hinlegen.«
»Ich spreche nicht mehr mit diesem Besserwisser!« sagte Kiwrin verächtlich. »Geht ins Haus, bezieht eure Zimmer und gute Nacht! Ich finde schon ein Quartier. Ust-Kamenogorsk ist nicht Kajnar. Morgen um zehn hole ich euch ab. Ihr könnt ja nichts dafür, daß gerade die Widerlinge immer die besten Posten haben!«
Er wollte zum Bus gehen, aber Bergerow rief ihn zurück.
»Sie kommen auch mit, Michail Sergejewitsch.«
»Nein.«
»Und wenn ich Sie bitte?«
»Das sind ja ganz neue Töne!«
»Ich wußte nicht, daß Sie Wolfgangs bester Freund sind. Sie sind natürlich auch unser Gast.«
Kiwrin zögerte. Soll ich nachgeben? dachte er. Verliere ich nicht mein Gesicht? Aber dann sah er die im Stehen schlafende Erna, die ihre ganze Energie in den fünfzehn Minuten am Krankenbett ihres Mannes verbraucht hatte.
»Nur meinen Freunden zuliebe«, sagte Kiwrin stolz. »Ich will keine Dissonanzen.«
»Das haben Sie gut gesagt.« Bergerow konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich werde ein Bett ins Musikzimmer stellen lassen.«
Erna zog sich nicht aus, als sie endlich in ihrem Zimmer war. Sie saß auf dem Bett, starrte ins Leere, kippte dann um und schlief auf dem Rücken liegend sofort ein. Eva, die ihr Bett auf der anderen Seite des Zimmers hatte, kam zu ihr, schob ihre Beine auf das Bett, knöpfte drei Knöpfe des Kleides auf, damit sie besser atmen konnte, hob ihren Kopf und legte ein Kissen darunter. Dann ging sie zurück zu ihrem Lager.
Sie starrte vor sich hin, sah wieder diese nackte Gestalt zwischen den Schläuchen und Monitoren, diesen kleinen Kopf mit den Bartstoppeln, der so gar nicht wie Weberowsky aussah, und sah ihre Mutter, wie sie sich über diesen Kopf beugte und seine
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