Westwind aus Kasachstan
haben.«
»Sie sind ein Lügner, Nurgai!« erwiderte Frantzenow dumpf. »Nur die Gegenwart meiner Schwester hindert mich, vor Ihnen auszuspucken.«
»Laß dich nicht abhalten, Andrej.«
Nurgai erstarrte. Wilde Entschlossenheit spiegelte sich in seinen Augen. »Wie ihr wollt«, sagte er. »Ich wollte es gütlich lösen, immerhin haben wir neun Jahre gut zusammengearbeitet, aber jetzt werde ich gezwungen sein, mit allen Mitteln, auch wenn sie nicht erlaubt sind, Andrej Valentinowitsch daran zu hindern, Rußland zu verlassen.«
»Ich werde nach Moskau fliegen und mit Viktor Michailow sprechen.«
»Tun Sie das. Auch der Minister kann Sie nicht schützen. Sie werden statt in einem Hotel in der Lubjanka übernachten. Der KGB wird sie am Flughafen erwarten. Das verspreche ich Ihnen.«
Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne, warf sie über die Schulter und verließ das Krankenzimmer. Mit einem Knall schlug er die Tür hinter sich zu.
»Ein widerlicher Mensch«, meinte Erna und erhob sich von der Bettkante. »Er wird uns allen Schwierigkeiten machen.«
»Ich habe gute Verbindungen zu Moskau, Erna. Mach dir keine Sorgen. Kümmere dich ausschließlich um Wolfgang. Gehst du jetzt zu ihm?«
»Ja. Kommst du mit?«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Hoffentlich können wir Wolferl sehen.«
»Warum nicht? Es geht ihm doch besser.«
»Dr. Anissimow will mich nicht mehr zu ihm lassen. Er hat mich angebrüllt, gestern, weil ich länger als zehn Minuten bei Wolferl geblieben bin.«
»Er hat dich angebrüllt?«
»Gedroht hat er, daß ich Wolferl nicht mehr sehen werde. Das kann er doch nicht tun, Andrej, nicht wahr, das kann er doch nicht tun.«
»Wir werden sehen.« Frantzenow schob sich aus dem Bett und griff nach seiner Krücke. Er trug einen gestreiften Schlafanzug, ein wahrer Luxusartikel. Als man ihm den Schlafanzug gab, mußte er an Sotschi denken, dem vornehmen Seebad am Schwarzen Meer. Zweimal war er zur Erholung dort gewesen und hatte gesehen, daß viele russische Kurgäste in ihren gestreiften Pyjamas nicht nur am Strand, sondern auch auf der Strandpromenade herumwandelten, auf den weißen Bänken saßen oder der Kurmusik zuhörten. Es war etwas Besonderes, solch einen Schlafanzug zu besitzen, also mußte man ihn auch zeigen. »Anissimow wird nicht wagen, dich in meiner Gegenwart anzuschreien.«
»Warten wir es ab, Andrej.« Sie ging voraus und öffnete die Tür. »Ich bin wirklich zu lange geblieben. Aber kann man das nicht verstehen, wenn eine Frau bei ihrem Mann ist, von dem sie nicht weiß, ob er weiterleben kann?«
Auf der Intensivstation trafen sie auf Dr. Koslow. Er hob beide Hände, als müsse er ein Gespenst abwehren und stellte sich ihnen in den Weg. »Ohne Erlaubnis von Dr. Anissimow ist kein Besuch erlaubt. Auch für Sie nicht, Herr Professor.«
»Dann rufen Sie Anissimow an!«
»Ich weiß nicht, ob der Chef im Hause ist.«
»Das werden Sie ja sehen, wenn er nicht ans Telefon kommt.«
»Ich habe gestern gehört …«
»Was Sie gehört haben, ist unwichtig!« herrschte Frantzenow den jungen Arzt an. »Gestern ist vorbei, und heute ist ein anderer Tag!«
Dr. Koslow ging zum Wandtelefon auf dem Flur und rief Dr. Anissimow an. Er betete innerlich, daß er nicht da sein möge, aber Anissimow war in seinem Zimmer, saß vor einem Lichtkasten und betrachtete das Röntgenbild. Da schellte das Telefon.
»Ich habe gesagt, ich will nicht gestört werden!« schrie er in den Apparat. »Hört denn hier gar keiner mehr zu?«
»Hier Intensiv 11. Koslow.«
»Was ist?«
»Professor Frantzenow ist hier … und Frau Weberowsky.«
»Rausschmeißen!«
»Den Professor?«
»Die Frau!«
»Sagen Sie ihr das selbst.«
»Sie Memme! Sie werden nie Chefarzt!« Anissimow knipste den Lichtkasten aus, zog seinen weißen Kittel an und fuhr mit dem Lift hinauf zur Intensivstation. Wie ein Berserker stürmte er durch die große Glastür.
»Herr Weberowsky kann keinen Besuch empfangen!« rief er noch im Laufen. »Ich habe angeordnet …«
»Schreien Sie nicht!« sagte Frantzenow, fast ebenso laut wie Anissimow. »Und benehmen Sie sich wie ein gesitteter Mensch. Wenn Sie schon kein Herz haben, dann haben Sie wenigstens Anstand!«
Einen Moment sprachlos, starrte Anissimow ihn an. So hatte noch keiner gewagt, mit ihm zu sprechen. Er war Herr in diesem Haus und gewohnt, ohne Widerspruch seine Anordnungen zu geben. Jeder Patient duckte sich vor ihm, die Ärzte und die Schwestern und Pfleger sowieso, denn jeder hatte
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